OSZE-Generalsekretär im Interview Die Sicherheitsordnung ist in Gefahr
Die OSZE wurde einst gegründet, um für Sicherheit in Europa zu sorgen. Doch viele Vereinbarungen werden unterlaufen oder sind veraltet. OSZE-Generalsekretär Greminger erklärt, warum dies sehr gefährlich ist und was er dagegen tun will.
tagesschau.de: Wenn viele Staaten der OSZE weniger auf Kompromisse setzen und ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellen, wie kann dann die OSZE noch für "Sicherheit und Zusammenarbeit "sorgen?
Thomas Greminger: Die Organisation ist eine Plattform für inklusiven Dialog. Gerade in Zeiten, in denen die Spannungen wieder stark zunehmen, wo wir wieder mehr militärische Aktivitäten in Europa sehen - Beinahe-Zwischenfälle in der Luft, Militärmanöver in Grenznähe, ein Waffenstillstand im Donbass, der jeden Tag etwa 1000 Mal gebrochen wird - dann braucht es erst recht eine solche Dialogplattform.
Man muss auch zum gemeinsamen Handeln kommen. Aber es gibt Bereiche, bei denen wir schon froh sein müssen, dass man mal wieder an einem Tisch sitzt und spricht.
"Im Moment geht es nur um Bedrohungswahrnehmungen"
tagesschau.de: Wo ist das der Fall?
Greminger: Es gibt den "strukturierten Dialog", der bei der Ministerratssitzung 2016 in Hamburg vom deutschen OSZE-Vorsitz lanciert wurde. Das ist derzeit die einzige inklusive Dialogplattform, wo man über politisch-militärische Fragen spricht.
Im Moment wird dort erst einmal über Bedrohungswahrnehmungen gesprochen. Aber meine Ambition ist, dass wir spezifische Maßnahmen festlegen, um militärische Risiken zu reduzieren. Entweder werden die vorhandenen Maßnahmen der Sicherheits- und Vertrauensbildung angewendet. Oder wir revidieren substanziell diese Maßnahmen, die im "Wiener Dokument" festgelegt sind, - weil sie nicht mehr den heutigen Bedrohungsszenarien und den militärischen Fähigkeiten entsprechen.
Dezember 2016: Die Außenminister der OSZE-Staaten treffen sich in Hamburg.
Streit über Militärmanöver
tagesschau.de: Im "Wiener Dokument" der OSZE ist ja unter anderem festgelegt, Militärmanöver anzukündigen und Beobachter einzuladen. Aber zum Beispiel bei sehr kurzfristig einberufenen Übungen fehlt es an Regeln.
Greminger: Ja, dieses Problem wird im "strukturierten Dialog" thematisiert. Außerdem wurde dort vereinbart, Karten mit den militärischen Fähigkeiten anzufertigen. Das würde Militärübungen mit einschließen. Dies soll eine Diskussionsgrundlage bieten, damit man künftig nicht mehr wie zum Beispiel bei "Sapad" (dem russischen Großmanöver, das zuletzt im September 2017 in Russland und Weißrussland stattgefunden hat - Anmerkung der Redaktion) nicht mehr zu völlig verschiedenen Interpretationen kommt.
tagesschau.de: Russland sagt, "Sapad" war eine Anti-Terrorübung. Die NATO behauptet, es sei ein konventionelles Manöver gewesen, das sich gegen die Allianz gerichtet habe.
Greminger: Genau. Rein formell gesehen entsprach der Teil des Manövers, den Russland als "Sapad" angemeldet hat, dem "Wiener Dokument". Es wurde rechtzeitig gemeldet, die Zahl der Soldaten blieb unter der Schwelle, ab der eine Beobachtung vorgesehen ist. Weißrussland hat dann sogar freiwillig Beobachter eingeladen. In diesem Sinn war es formell korrekt.
Aber in der westlichen Wahrnehmung war das nur einer von mehreren Übungsteilen. Die Interpretation ist, wenn man diese verschiedenen Übungsteile zusammennimmt, dann ergibt sich ein ganz anderes Bild, als wenn man nur das anschaut, was als "Sapad" angemeldet wurde.
Hier haben wir zwei völlig voneinander abweichende Interpretationen und niemand trägt dazu bei, zu klären, was stimmt, um Transparenz herzustellen. "Sapad" ist eine wunderbare Illustration dafür, was wir schaffen müssen.
tagesschau.de: Wäre es denn eine Möglichkeit, neutrale Beobachter zu entsenden, die das objektiv einschätzen?
Greminger: Ja, eine der jetzt vorgeschlagenen Maßnahmen ist, vermehrt unparteiliche Experten verfügbar zu machen, die dann Sachverhalte klären können. Die weitere Frage ist, was man mit dieser Klärung macht. Aber im Moment bleiben wir auf dem Niveau der gegenseitigen Anschuldigen stehen und kommen keinen Schritt weiter.
Vertrauen für Verhandlungen schaffen
tagesschau.de: Ein Aufgabenbereich der OSZE ist Rüstungskontrolle und -begrenzung. Was kann die OSZE tun, um dem gegenwärtigen Aufrüstungstrend entgegenzuwirken?
Greminger: Der KSE-Vertrag wird nicht mehr wirklich eingehalten. Damit fällt ein wichtiger Bestandteil dieser regelbasierten Sicherheitsordnung weg, die wir seit dem Kalten Krieg aufgebaut haben. Das ist potenziell sehr gefährlich - mittel- und längerfristig.
Im Moment müssen wir darüber nachdenken, wie eine solche Vereinbarung in der Zukunft geografisch und inhaltlich aussehen könnte. Ich denke aber nicht, dass heute und morgen bereits die Zeit dafür reif ist, zu Verhandlungen zu kommen. Dafür wäre mehr Vertrauen notwendig.
tagesschau.de: Um Vertrauen herzustellen, geht es um konkrete Dinge wie Vereinbarungen über das Einschalten von signalgebenden Transpondern bei Militärjets, die über Europa fliegen, was derzeit häufig nicht gemacht wird und den Flugverkehr gefährdet.
Greminger: Darüber wird auch im "strukturierten Dialog" gesprochen. Über solche Dinge können wir graduell wieder Vertrauen schaffen. Gleichzeitig muss es Fortschritte bei der Lösung von Konflikten geben, insbesondere des Ukraine-Konflikts.
"Unsere Präsenz ist sehr wichtig"
tagesschau.de: Beim Krieg in der Ostukraine hat die OSZE-Beobachtermission das Problem, dass sie zwar beobachtet, registriert und Berichte erstellt, aber Verstöße gegen die Waffenstillstandsvereinbarungen nicht geahndet werden. Muss das nicht geändert werden?
Greminger: Die Mission macht einen sehr wichtigen Job. Auch die schiere Präsenz ist sehr wichtig, um Eskalationen zu verhindern. Aber es gibt keine Rechenschaftspflicht bei Waffenstillstandsverletzungen.
Ein Mechanismus, der dafür zu sorgen hätte, ist das "Gemeinsame Zentrum für Kontrolle und Koordination" (JCCC) (in dem sich bislang ukrainische und russische Militärvertreter ausgetauscht und abgestimmt haben - Anmerkung der Redaktion). Diese Plattform funktioniert nur noch teilweise, weil die russischen Offiziere abgezogen wurden. Es wäre wichtig, Bedingungen zu schaffen, die die Rückkehr der russischen Offiziere erlauben.
Dann müssten wir ein besseres Funktionieren dieser Kommission zustande bringen. Dafür gibt es sehr viel einschlägige Erfahrung, weil in fast jedem Friedensprozess ein ähnlicher Mechanismus existiert - so eine Art Militärkommission.
Das Interview führte Silvia Stöber, tagesschau.de.