Interview zu den Absturz-Folgen "So kooperativ war Russland noch nie"
Der Absturz der polnischen Präsidentenmaschine hat viel Leid über das Land gebracht, der Schock sitzt tief. Doch es gibt auch Positives zu berichten. Die Katastrophe hat Polen und Russland einander näher gebracht, berichtet Bartosz Wielinski, Journalist bei der polnischen Zeitung "Gazeta Wyborcza" im Gespräch mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Wie haben Sie das Unglück erlebt?
Bartosz Wielinski: Ich habe meine Familie in Kattowitz besucht und über meine Eltern davon erfahren. Ich wollte ihnen erst nicht glauben, was sie erzählten. Lech Kaczynski war nicht unser Lieblingspolitiker, aber daran denkt man in so einem Fall nicht mehr. Der Absturz der Präsidentenmaschine ist die größte Katastrophe in der jüngsten Geschichte Polens. Obwohl - das Wort Katastrophe ist für das Geschehene eigentlich zu wenig. Es ist viel, viel mehr: eine Wunde, die Jahre brauchen wird, um zu heilen.
tagesschau.de: Wie ist die Stimmung in der Hauptstadt Warschau?
Wielinski: Es herrscht große Trauer. Warschau hat mehr als eine Million Einwohner. Normalerweise ist auf den Straßen jede Menge los. Jetzt ist die Stadt tot. Die Straßen sind leer, Läden blieben am Wochenende geschlossen. Als die Leiche des Präsidenten überführt wurde, sind Hunderttausende von Menschen auf die Straße gegangen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Es herrschte eine ganz angespannte Stimmung, Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit. Die Menschen können es nicht fassen, das spürt man.
tagesschau.de: Wie berichten die polnischen Medien über die Katastrophe?
Wielinski: Mehrere Verlagshäuser haben am Wochenende Sonderausgaben herausgeben, die gratis auf den Straßen verteilt wurden. Im Fernsehen gab es kein normales Programm mehr, sondern nur noch Live-Berichterstattungen über die Katastrophe. Aus den verschiedensten Ecken Polens wurden Korrespondenten zugeschaltet. Wir Journalisten berichten pausenlos darüber.
"Die Russen kommen den Polen in dieser Zeit sehr entgegen"
tagesschau.de: Wie wurden in Polen die Reaktionen aus dem Ausland aufgenommen?
Wielinski: Es war unglaublich ergreifend, wie die Welt reagiert hat - wie sich die Deutschen, die Franzosen, die Amerikaner und besonders die Russen mit uns solidarisiert haben. Die Russen kommen den Polen in dieser schwierigen Zeit sehr entgegen. Beispielsweise konnten die polnischen Staatsanwälte bei der Verhörung der Fluglotsen und anderer Zeugen anwesend sein. Da gibt es eine ganz enge Zusammenarbeit. So kooperativ war Russland noch nie. Jetzt hofft man in Polen, dass sich beide Länder miteinander versöhnen, dass es durch diese tragischen Umstände zu einem Durchbruch kommt.
tagesschau.de: Bei dem Absturz kam nicht nur Präsident Kaczynski ums Leben. Es starben auch viele andere hochrangige Persönlichkeiten des Landes. Was bedeutet das Unglück gesellschaftspolitisch?
Wielinski: Wir haben keinen Staatspräsidenten mehr. Wir haben auch den Präsidenten der Nationalbank verloren, den stellvertretenden Parlamentspräsidenten, eine große Gruppe von Abgeordneten beider Kammern, die Kommandeure der Streitkräfte - es gibt viele Ämter, die derzeit nicht besetzt sind.
tagesschau.de: Wie kam es dazu, dass so viele Führungspersonen in einem Flugzeug saßen?
Wielinski: Der Jahrestag des Massakers von Katyn gehört im polnischen Kalender zu den wichtigsten Feierlichkeiten des Jahres. Deshalb mussten die hochrangigen Menschen des Landes dabei sein. Sie konnten nicht einfach sagen: Das ist mir zu weit weg oder wir können an dem Tag nicht. Es war für alle Pflicht, den gefallenen Soldaten von Katyn Ehre zu erweisen. Außerdem hat keiner damit gerechnet, dass so etwas passiert.
Das Interview führte Sonja Stamm für tagesschau.de.