Journalismus in Demokratien Schikane gegen Pressefreiheit
Verhaftungen, vage Gesetze, Verleumdungsklagen - auch die Verfassung in europäischen Demokratien kann die Pressefreiheit nicht umfassend schützen. Wie mit diversen Mechanismen dieses Grundrecht ausgehöhlt wird.
Die Pressefreiheit ist in allen europäischen Ländern in der Verfassung verankert. Auch die EU-Beitrittskandidaten wie Türkei, Serbien, Albanien und Montenegro sichern den Journalistinnen und Journalisten im Land per Verfassung zu, dass sie ungehindert ihrer Arbeit nachgehen können. Trotzdem werden sie dort - wie aber auch in anderen demokratischen Staaten - im Alltag in mehr oder weniger starkem Maße bei der Informationsbeschaffung und der Veröffentlichung ihrer Recherchen behindert.
Die Organisation "Reporter ohne Grenzen" stellt weltweit jedes Jahre eine Rangliste der Pressefreiheit zusammen. Ganz unten auf dieser Liste stehen Länder, in denen Reporterinnen und Reporter festgenommen, angegriffen, entführt oder sogar ermordet werden. So machen Schikanen und Repressalien in Diktaturen wie Nordkorea, Turkmenistan und Eritrea eine unabhängige Berichterstattung unmöglich.
Der entscheidende Unterschied: "In Demokratien können Rechte eingeklagt werden", sagt Christian Mihr, Geschäftsführer der Organisation "Reporter ohne Grenzen" im Gespräch mit tagesschau.de. Doch der Schutz durch die Verfassung verhindert auch in europäischen Demokratien nicht, dass der Druck auf Redaktionen wächst. Der Blick nach Polen und Ungarn zeige, wie "sozusagen durch die Hintertür versucht wird, Pressefreiheit auszuhebeln."
Angst vor Klagen
Polen ist in der Rangliste von "Reporter ohne Grenzen" seit der Regierungsübernahme durch die konservative Regierungspartei PiS 2015 um 44 Plätze abgerutscht, von Platz 18 auf 62. Die Regierung setzt unabhängige Medien durch Verleumdungsklagen, Werbeboykotte und Strafermittlungen zunehmend unter Druck. Etliche Journalistinnen und Journalisten wurden wegen ihrer kritischen Haltung gegenüber der Regierung entlassen.
Die Arbeit der unabhängigen Medien werde zudem unterminiert: Sie würden zu wichtigen politischen Terminen nicht eingeladen und Anfragen nicht beantwortet, sagt Joanna Maria Stolarek, Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau gegenüber tagesschau.de.
"Viele Kollegen und Kolleginnen trauen sich an bestimmte Themen nicht mehr heran, weil sie Klagen fürchten, vor allem zivilrechtliche Klagen gegen einzelne Journalisten, gegen Zeitungen, Sendeanstalten", so Stolarek. Das Problem sei, dass viele Medienunternehmen die Kosten nur schwer tragen könnten - vor allem bei schwindenden Einnahmen. So hat die polnische Regierung verfügt, dass Staatsunternehmen keine Anzeigen mehr bei nicht regierungskonformen Medien schalten dürfen.
Verunsicherung durch vage Gesetze
Für Verunsicherung sorgten Gesetze mit vagen Formulierungen wie im ungarischen Mediengesetz, das 2011 verabschiedet wurde, erklärt Mihr. Darin heiße es, dass Journalisten ausgewogen berichten sollen. "Aber ‚ausgewogen‘ ist ja ein sehr problematischer Begriff, denn wer sagt denn, was ausgewogen ist." Anlässlich der Corona-Krise wurde die Verbreitung falscher oder "irreführender" Nachrichten unter Strafe gestellt. "Das führt natürlich zu Verunsicherung darüber, wie kann ich über was berichten", sagt Mihr.
Christian Mihr, Journalist und Geschäftsführer von "Reporter ohne Grenzen"
Als weiteres Beispiel nennt Mihr Serbien, auch eine Demokratie. Dort wurde eine Journalistin kurzfristig verhaftet, die in der Frühphase der Corona-Pandemie die Corona-Politik der Regierung kritisiert und über die dortigen Zustände in Krankenhäusern berichtet hat. "Das führt natürlich zu Verunsicherung bei den Kollegen und Kolleginnen. Ich will ja selber nicht verhaftet werden als Journalist", so der Geschäftsführer von "Reporter ohne Grenzen". "Das sind Verunsicherungen, die am Ende zu Selbstzensur führen können. Das wissen wir aus Gesprächen mit Journalisten."
Bulgarien - auf Platz 111 von 180 - bleibt das am schlechtesten platzierte EU-Land. Dort erkauft sich die Regierung mit Hilfe von EU-Geldern loyale Berichterstattung. Unabhängige Medien werden durch Justizschikanen drangsaliert, kritische Medienschaffende auch durch Schmutzkampagnen und Gewalt.
Bedrohung durch Gewalt und "Hate Speech"
Angst vor Gewalt von Polizisten und Demonstrierenden mussten französische Reporterinnen und Reporter in Frankreich haben, wenn sie über die "Gelbwesten"-Proteste berichteten. In Spanien war die Situation ähnlich bei den Demonstrationen für eine Unabhängigkeit Kataloniens. Es gebe immer wieder Übergriffe, "die nicht-staatlicher Art sind - wie zum Beispiel hier in Deutschland während der ‚Hygiene‘-Demos", so Mihr.
Hassäußerungen im Internet gegen Medienschaffende sind ein zunehmendes Problem, auch in Ländern auf den vordersten Plätzen der Rangliste wie Norwegen, Finnland, Schweden und den Niederlanden. Eine medienfeindliche Stimmung, die besonders von populistischen Regierung verbreitet wird, sieht "Reporter ohne Grenzen" als Erschwernis der journalistischen Arbeit.
Weltkarte der Pressefreiheit von "Reporter ohne Grenzen" 2020
Gefahr für journalistische Grundprinzipien
Eine Behinderung sieht Mihr auch in der weltweiten Aushöhlung des "Quellenschutzes" im digitalen Raum, zunehmend auch in Europa. Dadurch könnten Journalisten das Versprechen, ihre Quellen zu schützen, nicht mehr garantieren - das sei in einer Zeit, in der Kommunikation vielfach digital stattfinde, ein großes Problem.
Wann wird aus Schikanen und Verunsicherung eine Bedrohung für die Pressefreiheit und Demokratie? "Wenn ich mich nicht mehr darauf verlassen kann, dass ich Verletzungen des Presserechts einklagen kann", sagt Mihr. "Wenn Grundprinzipien des Journalismus durch Gesetzgebung nicht mehr garantiert werden können."