interview

Wahlerfolg des Front National "Spiel mit den Ängsten der Menschen"

Stand: 07.12.2015 18:26 Uhr

Der Front National, die polnische PiS oder hierzulande die AfD - Rechtspopulisten können in Europa derzeit zahlreiche Wahlerfolge feiern. Das Vorgehen ist dabei meist ähnlich, sagt der Historiker Melzer gegenüber tagesschau.de. Die Parteien spielen geschickt mit den Ängsten der Menschen.

tagesschau.de: Droht Europa ein Rechtsruck?

Ralf Melzer: Der Erfolg von Rechtspopulisten ist ein europaweiter Trend, der fast jedes Land betrifft. In mehreren Staaten sind rechte Parteien mittlerweile an der Regierung beteiligt und sogar in traditionell liberalen Gesellschaften, wie etwa Skandinavien oder in den Niederlanden, sind sie eine wichtige politische Kraft geworden. Wenn man die Ursachen analysiert, dann ist zu befürchten, dass dieser Trend noch nicht zu Ende ist.

tagesschau.de: Welche Gründe gibt es für die jüngsten Erfolge der Rechtspopulisten?

Melzer: Die Ursachen sind vielfältig und variieren von Land zu Land. Es gibt aber einige Elemente, die immer wieder vorkommen und damit entscheidend sind für den Erfolg rechter Parteien. Das sind zum Beispiel die Folgen der Globalisierung, die zu Verunsicherungen führen. Es kommt zu kollektiven Verlust- und Abstiegsängsten, und viele Menschen geben dafür den etablierten Parteien die Schuld.

Dazu kommen dann die akuten Krisen, also etwa die hohe Zahl der Flüchtlinge oder die Furcht vor islamistischen Anschlägen. Das ist häufig auch eine Angst vor dem Fremden, die besonders ausgeprägt ist in Gegenden, wo wenig Zuwanderer leben. Diese Grundängste verstehen die rechten Parteien - nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa - geschickt zu befeuern und für ihre Zwecke auszunutzen.

Ralf Melzer
Der Historiker ist seit September 2011 Leiter des Arbeitsbereichs "Gegen Rechtsextremismus" der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er forscht seit Jahren zu rechten Strömungen in Europa.

"Einfaches Volk" vs. "böse Eliten"

tagesschau.de: Wirkliche Lösungen für diese Probleme können die Rechtspopulisten nicht anbieten - wieso verfangen ihre Parolen dennoch?

Melzer: Sie konstruieren einen Gegensatz zwischen dem "einfachen Volk" und den "bösen Eliten", die angeblich nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Pauschal werden "die da oben" für die - ja durchaus real vorhandenen - Probleme verantwortlich gemacht. Diese Parteien verstehen es also, die Menschen in ihren Ängsten zu bestärken und diese für sich zu nutzen. Das schaffen sie, indem sie sich selbst als Alternative zu dem "verkrusteten" Parteiensystem oder zur "Lügenpresse" darstellen, und den vermeintlichen Volkswillen gegen die demokratische Verfassungsordnung ausspielen.

tagesschau.de: Haben die etablierten Parteien ein Stück weit versagt und so den Aufstieg der Rechten begünstigt?

Melzer: Versagt nicht, aber sicher haben sie auch Fehler gemacht. Die Stärke der radikalen Rechten - zum Beispiel aktuell in Frankreich - liegt zum Teil auch an der Schwäche der demokratischen Parteien. Diese müssen zweifellos besser werden, etwa in der Kommunikation oder bei Partizipationsangeboten, denn Politik funktioniert nicht mehr als Einbahnstraße. Aber das ist auch nicht leicht, zumal wenn man es mit Rechtspopulisten zu tun hat, die immer einfache Antworten auf komplexe Herausforderungen geben.

Rechte Themen werden salonfähig

tagesschau.de: Drohen durch die Erfolge von FN, PiS und AfD die Konservativen Parteien weiter nach rechts zu rutschen?

Melzer: Wir sehen, dass Aussagen, die vor wenigen Jahren als jenseits des politischen Konsens galten, plötzlich gesellschaftsfähig werden. Der gesamte politische Diskurs hat sich also bereits nach rechts verschoben. Es ist äußerst gefährlich, wenn konservative Parteien mit Blick auf Wählerstimmen Positionen der Populisten übernehmen. Untersuchungen zeigen, dass es langfristig die Rechten stärkt, wenn ihre Aussagen auf einmal salonfähig werden. Wenn zum Beispiel die CSU den ungarischen Ministerpräsident Viktor Orban, dessen Politik die demokratischen Grundlagen in Ungarn untergräbt, einlädt und aufwertet, halte ich das für ein höchst problematisches Zeichen.

tagesschau.de: Gerät das demokratische System dadurch generell in Bedrängnis?

Melzer: Wir erleben seit längerem bereits eine Legitimationskrise demokratischer Institutionen. Die Politik wird als ohnmächtig gegenüber den großen Herausforderungen - Finanzkrise, Migration oder Terrorismus - wahrgenommen. Sie muss deutlich machen, dass sie handlungsfähig ist, aber nicht in opportunistischer Weise, wie es Populisten tun, sondern indem sie klare Positionen vertritt und Orientierung gibt in einer komplizierten Welt.

"Völlig unrealistische Vorstellung eines homogenen Volksstaates"

tagesschau.de: Im Europa-Parlament haben sich mehrere rechte Parteien zu einer Fraktion zusammengeschlossen. Was vereint diese Gruppen - und was trennt sie?

Melzer: Was allen gemein ist, ist eine Anti-Establishment-Attitüde vermischt mit einer Ideologie, die das Nationale betont und alles Fremde ausgrenzt. Außerdem beschwören fast alle diese Bewegungen die überkommene und heutzutage auch völlig unrealistische Vorstellung eines homogenen Volksstaates. Demokratische Prinzipien und Pluralismus werden nicht als Bereicherung, sondern als Hindernis wahrgenommen.

Was diese Parteien auf europäischer Ebene trennt, sind bislang vor allem persönliche Animositäten sowie in einigen Bereichen auch ideologische Unterschiede. Der Zusammenschluss von  radikal rechten  Parteien bzw. Abgeordneten im Europäischen Parlament zur Fraktion ENF ("Europe of Nations and Freedom") sollte von daher nicht überbewertet werden; das hat auch taktische Gründe - sie bekommen nämlich durch den Fraktionsstatus deutlich mehr Geld.

Hohe Zustimmung zu rechtem Gedankengut

tagesschau.de: Könnte die AfD in Deutschland - wie der Front National in Frankreich - dauerhaft zu einer politischen Kraft werden?

Melzer: Wir müssen uns für die nähere Zeit wohl darauf einstellen. Nach einer Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung liegt das rechtspopulistische Potenzial bei etwa 20 Prozent. Auch wenn die AfD dieses Potenzial nicht voll ausschöpft, wird sie versuchen, davon zu profitieren. Wir reden hier über abwertende Einstellungen gegenüber bestimmten Gruppen, autoritäre Orientierungen und Demokratiemisstrauen. Die Verbreitung ist dabei unterschiedlich ausgeprägt: In den neuen Bundesländern, bei Älteren, bei Frauen und bei Menschen mit niedrigerem Bildungsabschluss finden sie besonderen Zuspruch.

Außerdem werden uns die gegenwärtigen Herausforderungen, wie die vielen Flüchtlinge oder der militante Islamismus, auch in den kommenden Jahren noch beschäftigen. Und solange das so ist, werden Rechtspopulisten weiter versuchen, dies für sich zu instrumentalisieren  - in Deutschland und in Europa.

Das Interview führte Alexander Steininger, tagesschau.de.