Abtrünnige Gebiete Wie der Kreml "eingefrorene Konflikte" nutzt
Die Bitte aus der moldauischen Region Transnistrien um den Schutz Russlands erinnert an die Entwicklungen, die zum Krieg gegen die Ukraine führten. Doch andere "eingefrorene Konflikte" zeigen, dass Putin differenziert vorgeht.
"Russland ist ein friedliebendes Land, umgeben von Waffenstillständen." - So beschreibt der Satireaccount "Darth Putin" auf X den Umstand, dass sich entlang der Grenzen Russlands Konfliktgebiete wie an einer Perlenkette aufreihen.
Konflikte in Regionen, die sich während des Zerfalls der Sowjetunion von den damals entstehenden Nationalstaaten abspalteten und nach kurzen kriegerischen Auseinandersetzungen zu Waffenstillständen führten, werden als "eingefroren" bezeichnet.
Blaupause für Transnistrien?
Über all die Jahre relativ ruhig geblieben ist es jedoch nur im Fall der von Moldau abtrünnigen Region Transnistrien. Um Abchasien und Südossetien hat Russland in Georgien 2008 einen Krieg geführt. Bergkarabach, das von Armeniern bewohnt wurde, ist inzwischen wieder unter Kontrolle Aserbaidschans.
Russland nutzte die Instabilität, um die jeweiligen Staaten de facto in Geiselhaft zu halten und ihre Souveränität einzuschränken. Mit "Friedenssoldaten" sicherte sich Russland eine militärische Präsenz gegen den Willen der betroffenen Staaten.
Wie eine Blaupause wirkte es dann, als Russland 2014 auf der Krim und in der Ostukraine zunächst Konflikte um Selbstbestimmung der russischsprachigen Bevölkerung schürte, dann mit bewaffneten Kräften militärische Unruhen entfachte, um schließlich die Gebiete zu annektieren. Die Befürchtung liegt nahe, dass Russland diese Vorgehensweise für weitere Angriffe nutzt.
Doch so wie sich die jeweiligen Konflikte in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedlich entwickelten, nutzt die russische Führung diese auf verschiedene Weise. Dies lässt Schlüsse auf die Kosten- und Nutzenkalkulation des Führungskreises um Machthaber Wladimir Putin zu.
Politische Einflussnahme in Moldau
So zeichnet sich ab, dass Russland derzeit kein militärisches Vorgehen zur Einnahme der von der Republik Moldau abtrünnigen Region Transnistrien plant - jedenfalls nicht, solange die Ukraine noch auf seiner Seite der Grenze zu Luft, zu Wasser und an Land Stellung gegen die russischen Streitkräfte halten kann.
Vielmehr ist politische Einflussnahme Russlands zu erwarten, da im Herbst in Moldau eine Präsidentschaftswahl ansteht. Die pro-europäische Präsidentin Maia Sandu wird dann voraussichtlich von einem pro-russischen Politiker wie Ex-Präsident Igor Dodon herausgefordert. Am Wahltag sollen die Menschen zudem abstimmen, ob Moldau der EU beitreten soll. Seit dem 7. Februar führt die Republik Beitrittsverhandlungen.
Schutzbitte auch aus Gagausien
In dieses Bild passt, dass nun auch die Kreml-nahe Regierungschefin der autonomen moldauischen Region Gagausien um Schutz und weitere Unterstützung Russlands gebeten hat. Die von Eugenia Gutul gewählte Formulierung ist allerdings vergleichbar unkonkret wie jene Schutzbitte der abtrünnigen Region Transnistrien vom 4. März.
In beiden Fällen ist keine Rede von einem militärischen Eingreifen. Der Abgeordnete Oazu Nantoi aus Sandus Partei sagte der Nachrichtenagentur Reuters dazu: "Die Gagausen und die Transnistrier haben ein Ziel: die Situation in Moldau weiter zu destabilisieren." Putin überließ die Antwort darauf seinem Außenministerium. Er selbst erwähnte Transnistrien in seiner Rede an die Nation vom 4. März nicht.
Im Falle Transnistriens kommt hinzu, dass Unternehmen dort seit Jahresbeginn Zölle an den Staat Moldau zahlen müssen, wenn sie Handel mit der EU treiben. Dies ist ein erheblicher Kostenfaktor für die abtrünnige Region. Es ist wohl der Hintergrund für die Schutzbitte an Moskau. Anders als von vielen erwartet bat Transnistrien dieses Mal nicht um Aufnahme in die Russische Föderation wie schon im März 2014 und im Jahr 2006. Beide Male war die russische Führung nicht darauf eingegangen.
Option der Annexion von Südossetien
Vergleichbar verhält es sich mit der von Georgien abtrünnigen Region Südossetien. Russland hatte sie nach dem Krieg 2008 als unabhängig anerkannt und unter seine militärische Kontrolle genommen. 2022 kündigte der damalige Anführer Anatoli Bibilow im Wahlkampf ein Referendum über die Aufnahme Südossetiens in die Russische Föderation an.
Er erhoffte sich wohl Anerkennung aus Moskau dafür, dass Südosseten am Krieg in der Ukraine teilnahmen. Vor der eigenen Bevölkerung verteidigte er sogar die hohe Opferzahl unter ihnen. Doch der Kreml ließ Bibilow ins Leere laufen. Südossetien sagte das Referendum schließlich ab.
Auch für Südossetien war es nicht der erste Versuch, an Russland angegliedert zu werden. Doch Putin genügt die militärische Präsenz dort - 50 Kilometer vor der georgischen Hauptstadt Tiflis. Er hält sich die Option einer Annexion offen und sorgt so für bleibende Unsicherheit in der Region, während er eine neuerliche internationale Ächtung meidet. Aus dem Wirtschaftsministerium in Moskau kam 2022 sogar die Forderung, Südossetien und die andere von Georgien abtrünnige Region, Abchasien, müssten finanziell weniger abhängig von Russland werden.
Schleichender Aufkauf in Abchasien
Für das am östlichen Schwarzen Meer gelegene Abchasien hat der Machtzirkel um Putin eine eigene Lösung gefunden. Denn dessen Bevölkerung sträubt sich beharrlich gegen eine Vereinnahmung durch Russland über die bestehende militärische Besetzung hinaus. Der Kreml nutzt jedoch die massive finanzielle Abhängigkeit und investiert teils über Geschäftsleute in strategisch wichtige Orte wie den brachliegenden Flughafen.
Derlei Aktivitäten verstärkte Russland im Zuge des Kriegs gegen die Ukraine. Ein noch auszubauender Hafen bietet die Möglichkeit, sanktionierte Güter von der Türkei über Abchasien nach Russland zu transportieren. Außerdem könnten Kriegsschiffe dort vor Anker gehen, wenn die russische Schwarzmeerflotte nahe der okkupierten Krim weiter unter Druck gerät.
Ansehensverlust in Bergkarabach
Im Falle Bergkarabachs, der von Armeniern bewohnten Konfliktregion auf dem Gebiet Aserbaidschans, war Putins Machtzirkel bereit, einen Preis zu zahlen - und zwar um den Konflikt in seiner bestehenden Form aufzulösen. Als Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew 2020 mit Unterstützung der Türkei einen Krieg zur Rückeroberung Bergkarabachs führte, setzte Putin erst dann einen Waffenstillstand durch, als den Armeniern nur noch ein Rumpfgebiet geblieben war.
Zu den Waffenstillstandsbedingungen zählte, dass russische "Friedenssoldaten" zum Schutz der Armenier stationiert wurden. Die Führung Bergkarabachs setzte auf eine "Russifizierung" mit Einsetzung des Russischen als Amtssprache. Außerdem nahmen viele Armenier russische Pässe an in der Hoffnung auf Schutz. Armenien selbst war nicht mehr fähig und auch nicht mehr willens, für Bergkarabach Angriffe Aserbaidschans auf eigenes Territorium und damit die eigene Existenz zu riskieren.
Doch die Armenier wurden schwer von Russland enttäuscht. 2023 setzte Alijew zur schleichenden Eroberung Bergkarabachs an. Die russischen "Friedenssoldaten" ließen dies bis hin zur kompletten Einnahme und dem Exodus der Armenier im September 2023 geschehen. Damit ging ihnen allerdings das Mandat für ihre Präsenz auf aserbaidschanischem Boden verloren. Medienberichten zufolge wurde ein Teil des Militärgeräts und der 2.000 Soldaten inzwischen abgezogen.
Zudem verlor Russland seinen Status als Schutzmacht Armeniens. Zwar bleibt das Land weiter wirtschaftlich und militärisch abhängig von Russland. Aber die Regierung in Jerewan unternimmt alles, um diese Abhängigkeit zu verringern. Andere Staaten in der Region verfolgen diese Entwicklung mit Blick auf ihr eigenes Verhältnis zu Russland genau.
Putin ist offensichtlich bereit, diesen Preis zu zahlen, weil es Aserbaidschan als wichtigeren strategischen Partner in der Region ansieht und eine offene Konfrontation mit der Türkei verhindern will. Außerdem geht es Russland um Stabilität in der Region, von der aus sich noch immer ein Flächenbrand entwickeln kann. Das könnte wiederum jene Infrastruktur gefährden, die Russland als Alternative für die Wege nach Europa benötigt.
Die Ukraine hat für Putin überragende historische, politische und strategische Bedeutung gegenüber seinen anderen Nachbarregionen. Solange sich Putin dort aber Optionen offenhält, bleiben die betroffenen Menschen in seiner "Geiselhaft".