Proteste gegen Deponie Hartnäckig gegen Moskaus Müllpläne
In einem weitgehend unberührten nordrussischen Waldgebiet soll eine der größten Deponien Europas entstehen - für Müll aus dem weit entfernten Moskau. Längst protestieren nicht mehr nur Anwohner.
Das mit den Barrikaden ist durchaus wörtlich zu nehmen. An allen Zufahrtswegen zur Deponiebaustelle haben die Aktivisten Stellung bezogen. Sie harren in provisorischen Unterständen aus, die mehr schlecht als recht gegen Wind und Wetter schützen. Junge und Alte, aus allen Schichten, von überall her.
"Wir stehen hier", sagt ein junger Mann, der seinen Namen lieber nicht nennen möchte, "um zu verhindern, dass die Tanklaster zur Baustelle in Schijes gelangen". Eine Barrikade nicht aus Fahrzeugen oder Baumstämmen, sondern aus Menschen.
Ein Ort mit besonderer Bedeutung
Der eh schon morastige Weg ins Hauptlager, der nach dem nächtlichen Regen eher einer Seenplatte gleicht, führt durch dichten, herbstlich gefärbten Wald. Ein Wald, mit und von dem die Bewohner der Regionen Komi und Archangelsk leben - vom Wild, von den Fischen, Beeren, den Pilzen und dem sauberen Wasser.
Sergej, der so viel Zeit wie möglich im Lager verbringt, schüttelt den Kopf. Wie so viele kann auch er nicht begreifen, warum ausgerechnet hier in Plastik verpackter, geschredderter Abfall - von Altreifen über Plastik bis hin zu Restmüll - deponiert werden soll. "Überall hier sind Bäche und Flüsse, die weiterführen bis ins Nordmeer, ins Weiße Meer." Eine Umweltkatastrophe, warnen Aktivisten wie Experten, sei quasi vorprogrammiert.
"Ohne uns wäre hier schon eine Deponie"
Vom großen Schotterhügel jenseits der Bahntrasse, auf dem ein schwarz gekleideter, vermummter privater Sicherheitsmann steht, hat man freien Blick auf das bereits abgeholzte, mit Betonplatten versiegelte Areal. "Ohne uns", ist Sergej überzeugt, "würden hier bereits 20.000 Wagonladungen Müll liegen".
Der Plan sei es gewesen, im Laufe der Zeit immer mehr Wald abzuholzen, die Fläche zu versiegeln, um am Ende auf einer Fläche von 5000 Hektar Müll unterzubringen.
Für den Gouverneur ein Projekt mit Priorität
In der für Schijes zuständigen Verwaltung von Archangelsk weist man solche Aussagen zurück. Zurzeit, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme, befinde sich das Projekt in der Vorbereitungsphase. Die bisherigen Bauten dienten allein der Projektierung. Bevor mit dem eigentlichen Bau begonnen werden könne, müssten erst die entsprechenden Gutachten vorliegen und öffentliche Anhörungen durchgeführt werden.
Das Grundstück, das der Investor gewählt habe, erfülle aber alle Kriterien, die es für eine Platzierung eines solchen Objektes gebe. So handele es sich unter anderem nicht um ein Naturschutzgebiet.
Grundsätzlich, heißt es, sei das Projekt auf jeden Fall wünschenswert. Weil es der gesamten Region, auch den umliegenden Dörfern, zugute komme.
"Wir wollen weder euren Müll, noch euer Geld"
Laut und vernehmlich schallt Koljas Protestsong durch das Lager. Den Worten der Gebietsverwaltung glauben sie hier schon lange nicht mehr. Vor mehr als einem Jahr, erzählt Ludmilla, die sich am Holzofen aufwärmt, habe man angefangen zu bauen. Heimlich. Dann sei von einer Fabrik die Rede gewesen. Erst nach und nach sei auf Drängen der örtlichen Abgeordneten und der Aktivsten alles herausgekommen.
Seit über einem Jahr sind sie deshalb nun draußen und kontrollieren, was sich auf der Baustelle von Schijes tut. Sie protokollieren alles, was gegen geltendes Recht verstößt, reichen Klagen ein.
Die privaten, schwarz maskierten Sicherheitsleute protokollieren ihrerseits genau das Kommen und Gehen der Aktivisten.
"Wir geben nicht nach"
Anna, die seit langem dabei ist, hat sich an diesen psychologischen Kleinkrieg längst gewöhnt. Ungerührt schreibt sie einen neuen Dienstplan. Fünf Posten sind rund um die Uhr zu besetzen. Freiwillige zu finden ist kein Problem. Fast alle sind zum wiederholten Mal hier.
Einen Winter habe man schon überstanden. Man werde auch den nächsten überstehen, sagt Anna gänzlich ohne Pathos. "Wer uns aus dem Weg räumen will, der muss schon über Leichen gehen." Die Deponie werde es nicht geben. Punkt.
Ein Machtwort von oben?
Sie haben bei ihrem Protest schon Prügel bezogen. Es laufen Gerichtsprozesse gegen sie. Eine Mehrheit der Bevölkerung im hohen Norden aber, das zeigen Umfragen, steht hinter ihnen.
Auf der Baustelle ruhen zurzeit die Arbeiten. Zum einen, weil die Aktivisten erfolgreich die Zufahrtswege blockieren. Zum anderen, weil sich Präsident Wladimir Putin eingemischt hat.
Ein Machtwort von oben steht noch aus. Ein Zeichen von unten soll es heute geben - beim landesweiten Protesttag gegen die Verklappung von Moskauer Müll im Hohen Norden.
Diese und andere Reportagen können Sie am Sonntag um 19:20 Uhr in der Sendung Weltspiegel im Ersten sehen.