Hungersnot in Somalia Der gescheiterte Staat am Horn von Afrika
Somalia leidet unter einer Hungersnot. Nur mühsam erreichen die Hilfslieferungen die betroffenen Regionen. Der Grund: Das Land ist in verschiedene Machtzentren gespalten, eine funktionierende Zentralregierung gibt es nicht. tagesschau.de gibt einen Überblick über die politische Situation.
Von Lucas Lamberty für tagesschau.de
Um die aktuellen Konflikte in Somalia verstehen zu können, bedarf es eines Blickes in die Geschichtsbücher. Die Leidensgeschichte Somalias beginnt im 19. Jahrhundert. Nachdem die Region im Mittelalter durch mächtige Handelsreiche kontrolliert worden war, errichteten Großbritannien und Italien in den 1880er Jahren hier zwei Protektorate. Erst im Zuge der Unabhängigkeitserklärung 1960 vereinigten sich diese beiden Teile zur Republik Somalia. Doch die losen demokratischen Strukturen, die sich in der Folgezeit bildeten, verschwanden schon neun Jahre später. Denn 1969 errichtete Siad Barre, unterstützt durch die Sowjetunion, eine sozialistische Militärdiktatur.
Dabei gelang es Barre, mithilfe repressiver staatlicher Strukturen die durch ein ausgeprägtes Clanwesen geteilte Gesellschaft Somalias zu unterdrücken und zusammenzuhalten. Mehr als 20 Jahre währte die Diktatur, bis 1991 ein Zusammenschluss verschiedener Clan-Fürsten den Diktator stürzte.
Von der Dikatur zum Bürgerkrieg
Doch wie so oft waren die Revolutionäre uneins, wie es mit Somalia weitergehen sollte. Und während sich die Provinzen Somaliland und später Puntland abspalteten, versank das restliche Somalia im Bürgerkrieg der Clanmilizen. Periodisch trafen sich die Clanführer zu Friedenskonferenzen, ohne eine Möglichkeit zu finden, das durch den Sturz Barres entstandene Machtvakuum mit einer stabilen Zentralregierung zu füllen.
Die Zivilbevölkerung litt unter dem Fehlen fester staatlicher Strukturen, eine Hungersnot breitete sich aus. Die UN-Mission UNOSOM unter US-amerikanischer Führung sollte die Lieferung von Nahrungsmittelhilfe sichern und den Frieden wiederherstellen. Doch nachdem 1993 19 US-Soldaten von somalischen Milizen getötet worden waren, zogen die USA im Oktober ihre Truppen wieder ab. Im März 1995 verließen schließlich die letzten UN-Truppen das Land.
Erst 2000 - fast zehn Jahre nach dem Sturz Barres - verständigten sich die Clan-Führer auf eine Übergangsregierung. Doch obwohl diese Zentralregierung international anerkannt wurde, konnte sie das Land nicht vereinen und dauerhaft Frieden schaffen.
Sechs Jahre später erschien ein neuer Akteuer im Kampf um die Macht in Somalia: die Union der Islamischen Gerichtshöfe (ICU). Der islamistischen ICU gelang es, die Kontrolle über die Hauptstadt Mogadischu zu übernehmen und für einen kurzen Zeitraum geordnete Verhältnisse herzustellen - zum Missfallen der restlichen Welt.
Eine Regierung ohne Macht
Noch unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September fürchtete der Westen die Ausbreitung des Islamismus in Somalia. Und so währte die eingekehrte Ruhe nicht lange, das Nachbarland Äthiopien reagierte militärisch, zerschlug die ICU und installierte - ohne dauerhaften Erfolg - Präsident Abdullahi Yussuf.
Um die drohende Gefahr einer erneuten humanitäten Katastrophe abzuwenden, einigte man sich schließlich 2009 im Dschibuti-Abkommen mit Zustimmung des Westens auf einen neuen Präsidenten: Sheikh Sharif Ahmed - ironischerweise der Mann, der 2006 als Führer der ICU durch äthiopische Truppen vertrieben worden war.
Sharif Ahmed ist bis heute im Amt. Seine Regierung ist international anerkannt, hat in Somalia allerdings faktisch kaum Macht. Der Einfluss der Regierung erstreckt sich hauptsächlich auf die Hauptstadt Mogadischu - um genauer zu sein auf den internationalen Flughafen, den Hafen und den Präsidentenpalast. Die etwa 5000 Soldaten der Afrikanischen Union, die 2007 als Friedenssoldaten nach Somalia geschickt wurden, reichen nicht aus, ein größeres Gebiet zu sichern.
Der "gescheiterte Staat"
Den Großteil des Landes beherrscht dagegen die Al Schabaab-Miliz, die 2007 aus dem radikalen und militanten Flügel der ICU hervorging. Mit Terror gegen die Bevölkerung und drakonischen Strafen wollen die Milizionäre einen Gottesstaat errichten. Aufgrund ihrer Kontakte zu Al Kaida stufen die westlichen Staaten die Al Schabaab-Miliz als Terrororganisation ein.
Mit der Kontrolle über den Hafen Kismayo hat die Organisation eine wichtige Einnahmequelle. Die UNO schätzt, dass die Einnahmen der Miliz durch Steuern und Erpressung bei mehr als 100 Milionen US-Dollar im Jahr liegen. Geld, mit dem die Miliz ihren Kampf gegen die Regierung finanziert.
Zwei andere wirtschaftliche Machtzentren - die Häfen Berbera und Bossasso - befinden sich wiederum unter Kontrolle der international nicht als eigenständige Staaten anerkannten Teilprovinzen Somaliland und Puntland. Da in Somalia wenig produziert wird, ist das Land besonders auf den Außenhandel angewiesen. Vor allem die Häfen stellen deshalb einen großen wirtschaftspolitischen Machtfaktor dar. Und so bleibt Somalia weiterhin in verschiedene Zentren aufgespalten, ohne Aussicht auf eine einheitliche Verwaltung.
Die Politikwissenschaft spricht in einem solchen Fall von einem "gescheiterten Staat". Denn Somalia ist nicht mehr in der Lage, zentrale Staatsfunktionen zur Sicherheit und Wohlfahrt der Bürger auszuüben. Im jährlichen "Failed States Index", der vom Forschungsinstitut "Fund for Peace" herausgegeben wird, belegt Somalia deshalb 2011 den traurigen ersten Platz: ein gescheiterter Staat, ein Staat ohne Staatlichkeit. Und gerade das macht die Arbeit von Hilfsorganisationen in Somalia so schwierig.