Erinnern an Opfer des Massakers von Srebrenica "Ich werde den Tätern nie verzeihen können"
In der bosnischen Stadt Srebrenica haben 30.000 Menschen an das Massaker vom Sommer 1995 erinnert. Zudem wurden 520 erst kürzlich identifizierte Opfer beigesetzt. Gegen Ende des Bosnienkriegs wurden in Srebrenica innerhalb weniger Tage mehr als 8000 bosnische Muslime von serbischen Truppen getötet.
Von Andreas Meyer-Feist, ARD-Studio Südosteuropa, zurzeit in Srebrenica
Die Sonne brennt bei fast 35 Grad im Schatten, eine Qual für die Menschen, die zur Gedenkfeier wollen: "Allah ist groß", tönt es aus den Reihen der völlig erschöpften Teilnehmer des 120 Kilometer langen Gedenkmarschs zum Friedhof von Srebrenica. Der Marsch folgt der Strecke, auf der die Bewohner Srebrenicas 1995 vor ihren Verfolgern flohen - oder es zumindest versuchten, was ihnen nicht immer gelang. Die Opfer des Massakers waren bosnische Muslime. Besonders auffällig in diesem Jahr sind die grünen Flaggen und die "Allah"-Rufe: Religiöse Inbrunst als Antwort der Hinterbliebenen auf den nationalistischen Größenwahn und die ungebremste Mordlust, für die Srebrenica zum schrecklichen Symbol wurde.
Stelen erinnern an Tausende Opfer
Alija Sulejmanovic hält sich von der Menge fern. Jedes Jahr kommt er aus den Niederlanden hierher, um an den Gedenkfeiern teilzunehmen. Seinen Vater hat er im Bosnienkrieg verloren, seinen Schwager in Srebrenica. Hier wurde er auch begraben. Sulejmanovic zeigt auf den Namen auf einer der vielen Tausend weißen Steinstelen, die dem Friedhof eine strenge, geometrische Harmonie verleihen und sich vor dem dunklen Grün der umgebenden Wälder absetzen, in denen noch viele Tote vermutet werden: "Mein Körper ist meistens in Holland", sagt Alija Sulejmanovic, "aber meine Seele ist immer hier in Srebrenica". Rachegefühle habe er nicht, sagt er.
Von den Politikern heute fordert er aber mehr Verantwortungsbewusstsein und Fingespitzengefühl im Umgang mit der Vergangenheit, die bis heute nicht aufgearbeitet sei: "Die bosnischen Serben sollten zu allererst daran arbeiten. Die Urheber des Verbrechens müssen zu ihrer Verantwortung stehen." Damit meint er vor allem den ehemaligen bosnisch-serbischen Militärchef Radko Mladic, der sich vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verantworten muss und der sich als unschuldig bezeichnet. Er meint aber auch viele Helfershelfer der Mordmaschine, die jahrzehntelang in Srebrenica lebten, und die jeder kannte.
"Dass die Täter ihre Verbrechen leugnen, schmerzt am meisten"
Ein paar Schritte weiter ist eine verschleierte Frau auf der Suche nach einem bestimmten Grabstein. Man muss genau hinschauen, denn alle sehen gleich aus: "Mein Bruder und viele Verwandte sind ermordet worden". Vergessen und verzeihen? "Das werde ich nie können", sagt sie. Obwohl sie Angehörige verloren hat, wollte sie Srebrenica nie verlassen: "Es ist nicht leicht, hier weiter zu leben, aber was sollen wir machen? Das Leben muss weitergehen." Die juristische Aufarbeitung des Verbrechens reißt alten Wunden auf: "Die Täter müssen verurteilt werden. Aber gerechte Strafen kann es sowieso nie geben. Dass die Täter ihre Verbrechen leugnen, schmerzt am meisten."
Inzwischen ist auch Adis Agic in Srebrenica angekommen, mit Blasen an den Füßen. Viele Kilometer hat er zu Fuß zurückgelegt nach Srebrenica - auf Straßen, die einst die Straßen der Flüchtenden waren: "Ich wollte nachempfinden, wie die Menschen damals marschiert sind, um sich und ihre Familien zu retten." Sein Weggefährte Edin Music erinnert daran, dass die holländischen Blauhelme der Vereinten Nationen das Massaker nicht verhindern konnten. Er hofft, dass die Politiker inzwischen klüger geworden sind, wenn es darum geht, Konflikte zu entschärfen, bevor mörderische Katastrophen passieren: "Europa darf nicht mehr weg schauen, wie damals in Bosnien. Wie soll Europa Kriege in Afrika und anderswo verhindern, wenn selbst in Europa versagt wird?"
Wenig Perspektive für die, die geblieben sind
So sieht das auch Landolf Reverterre, der sich im Verein "Bauern helfen Bauern" seit Jahren für den Aufbau zerstörter Häuser einsetzt: "Für diejenigen, die zurück gekommen sind, sieht es hier nicht sehr gut aus. Es gibt keine Jobs und selten einen gut erreichbaren Arzt, die Wege zur Schule sind meist weit. Das ist keine Perspektive für die Jungen. Und immer weniger wollen zurück nach Srebrenica."
Lokalpolitiker versuchen, die Vormacht bosnisch-muslimischer Parteien im Kommunalparlament zu halten. Eine serbische Stadtregierung soll verhindert werden. Im Herbst sind Kommunalwahlen. Wer im Ausland oder anderswo in Bosnien wohnt, wird von jungen Leuten am Rande der Gedenkfeiern ermutigt, sich in die örtlichen Wahllisten eintragen zu lassen, um zu verhindern, dass ausgerechnet in Srebrenica bosnische Serben regieren.
520 weitere Leichen identifiziert
Die Vergangenheit wirkt tief in die Zukunft hinein. Immer noch werden Opfer des Massakers entdeckt, die irgendwo verscharrt wurden. Und jedes Jahr das gleiche Bild auf dem Friedhof von Srebrenica. Ein Konvoi mit Hunderten Särgen bewegt sich zu den frisch ausgehobenen Gräbern. In diesem Jahr sind es 520. Die Überreste von Ermordeten, die erst jetzt identifiziert werden konnten, finden ihre letzte Ruhe. Bisher wurden hier rund 5100 Opfer bestattet.
Die Gedenkfeier ist auch 20 Jahre nach dem Beginn des Bosnienkriegs und 17 Jahre nach dem Massaker ein Politikum. Und das Zusammenleben in der Region ist noch immer schwer. Das Maassaker von Srebrenica ist eines der schwersten Kriegsverbrechen in Europa seit 1945.