Interview zum Krieg in Syrien Westen planlos - Russland überschätzt
Wieso ist dem syrischen Regime die Rückeroberung Aleppos so wichtig? Und warum hat der Sturz Assads für den Westen keine Priorität mehr? Im tagesschau.de-Interview erklärt der Nahost-Experte Guido Steinberg die Lage.
tagesschau.de: Wie verschieben sich in der umkämpften Stadt Aleppo gerade die Machtverhältnisse zwischen Assad-Regime und Rebellen?
Guido Steinberg: Das Assad-Regime baut seine Position mithilfe der russischen Luftwaffe und iranisch geführter Milizen massiv aus. In Aleppo ist das besonders sichtbar, es gilt aber für verschiedene Gebiete, auch beispielsweise für die Region rund um Damaskus. In Aleppo ist es dem Regime nun gelungen, den von Rebellen kontrollierten Osten der Stadt von der Außenwelt abzuschneiden und zu belagern. Und dort leben noch bis zu 250.000 Menschen. Das Regime wird nun versuchen, diesen Teil der Stadt einzunehmen. Damit wären die meisten Teile des syrischen Westens wieder in der Hand des Regimes.
"Situation in Aleppo dramatisch verschlechtert"
tagesschau.de: Was heißt das für die Menschen, die im belagerten Teil Aleppos leben?
Steinberg: Die Situation in der Stadt hat sich in den vergangenen Wochen dramatisch verschlechtert. Das liegt daran, dass eine große Straße in Richtung türkischer Grenze von Regimetruppen abgeschnitten wurde. Dadurch gelangt einerseits kein militärischer Nachschub mehr in die Stadt, andererseits werden Lebensmittel immer knapper. Hinzu kommen die Bombardierungen durch das Regime und der Beschuss mit Artillerie. Die Not der Menschen im Osten Aleppos wird dadurch immer größer.
"Regime bekämpft Bevölkerung im Osten der Stadt"
tagesschau.de: Syrische Truppen haben nun Fluchtkorridore eingerichtet, über die die Menschen den belagerten Ostteil der Stadt verlassen sollen. Hilfsorganisationen sehen darin keine humanitäre Maßnahme, sondern warnen vor einem Druckmittel des Assad-Regimes, nach dem Motto: Wer die Korridore nicht nutzt, muss mit weiteren Angriffen in der Stadt rechnen. Wie schätzen Sie diese Korridore ein?
Steinberg: Das Regime hat zwar die Bevölkerung Aleppos aufgefordert, über diese Korridore die Stadtviertel zu verlassen. Das Problem besteht allerdings darin, dass die Menschen in Ost-Aleppo bisher die Rebellen unterstützt haben - und deswegen befürchten, dass sie verhaftet oder gar getötet werden, wenn sie diese Korridore benutzen. Letztlich bekämpft das Assad-Regime die Bevölkerung im Osten der Stadt. Deswegen steht zu befürchten, dass diese Korridore nicht in die Freiheit führen.
Das Regime hat eindeutig das Ziel, möglichst große Teile der Bevölkerung aus der Stadt zu vertreiben, um dann in den sunnitischen Gebieten die Rebellen besser bekämpfen zu können. Man muss außerdem davon ausgehen, dass die Menschen im Osten der Stadt von den Rebellen daran gehindert werden, Aleppo zu verlassen. Denn die Rebellen hoffen, sich hinter der Bevölkerung verstecken zu können.
"Einnahme Aleppos wäre für Assad wichtiger Erfolg"
tagesschau.de: Warum ist für das Assad-Regime die Rückeroberung Aleppos so wichtig?
Steinberg: Aleppo ist die zweitgrößte Stadt des Landes und war einmal ein wichtiges wirtschaftliches Zentrum neben Damaskus. Seit 2012 war die Stadt eine Hochburg der Rebellen, der sunnitischen Islamisten. Die Einnahme der Stadt wäre ein wichtiger symbolischer Erfolg, der zeigen würde, dass das Regime wieder die Kontrolle über alle großen und wichtigen Städte des Landes hat, sprich über Damaskus, Hama, Homs, Aleppo, Latakia und Tartus. Der Versuch der Rebellen, das Assad-Regime zu stürzen, wäre damit endgültig gescheitert.
tagesschau.de: Welche Folgen hätte das für den Verlauf des Krieges?
Steinberg: Ein Erfolg in Aleppo würde es dem Regime erlauben, auch in der Umgebung von Damaskus die Rebellen weiter zu bekämpfen. Auch dort stehen die Rebellen kurz vor einer Niederlage. Der nächste Schritt wäre sicherlich, dass die syrischen Truppen die Rebellenhochburg in der Provinz Idlib im Südwesten von Aleppo einnehmen. Wäre das gelungen, wäre der gesamte westliche Teil Syriens mit den großen Städten und den dichtbesiedelten Gebieten wieder unter Kontrolle des Regimes. Damit wäre der Bürgerkrieg für das Regime gewonnen.
"Russen haben das Ruder herumgerissen"
tagesschau.de: Welchen Anteil daran hat das russische Eingreifen in den Krieg?
Steinberg: Die Bedeutung der russischen Hilfe für das Assad-Regime ist groß, sollte aber nicht überschätzt werden. Die militärische Intervention Moskaus im Jahr 2015 hat zwar zweifelsohne eine Wende gebracht. Denn im Frühjahr 2015 waren die Rebellen noch in der Offensive und die Russen haben das Ruder herumgerissen. Doch: Man sollte nicht ignorieren, dass nicht nur die Russen dort kämpfen. Iranische Revolutionsgarden haben mindestens 20.000 schiitische Milizionäre ins Feld geführt.
Darunter befinden sich libanesische Milizen, also Hisbollah-Kämpfer, genauso wie irakische oder afghanische Milizionäre und zuletzt sogar reguläre iranische Soldaten. Die Bedeutung der Iraner ist also nicht zu unterschätzen. Nach meiner Interpretation wären sie auch bereit, sehr viel mehr eigene Kämpfer aus Revolutionsgarden und Armee nach Syrien zu schicken, als dies derzeit der Fall ist.
tagesschau.de: Wir haben jetzt über Russen und Iraner gesprochen, nicht aber über die Amerikaner. Welche Strategie verfolgen die USA in dem Konflikt?
Steinberg: Die Amerikaner setzen offensichtlich nicht mehr auf einen Sturz Assads. Sie sagen zwar, dass das immer noch wünschenswert wäre, tun aber nur noch sehr wenig, um das auch Realität werden zu lassen. Spätestens 2014 haben sich die USA dafür entschieden, vor allem den "Islamischen Staat" zu bekämpfen.
Ihr wichtigstes Ziel ist es, zu verhindern, dass der IS die Kontrolle über weite Teile des syrischen Nordens und Ostens ausbaut. Das alte Ziel, Assad abzulösen, ist in den Hintergrund getreten. Realistisch ist das ohnehin nicht mehr. Mit der Hilfe Russlands und Irans wird sich Assad noch lange halten können. Auch bei einer Verhandlungslösung wird es nicht durchzusetzen sein, dass Assad geht.
"USA und Europäer sind nicht ehrlich"
tagesschau.de: Ist es den USA insgeheim Recht, dass sich die Russen so massiv einmischen und den Ton angeben?
Steinberg: Nein. Dass die Russen in Syrien eine ganz andere Strategie in dem Konflikt vertreten, ist der US-Regierung nicht Recht. Allerdings glaube ich auch, dass sowohl die US-Regierung als auch die Europäer nicht ganz ehrlich sind. Seit dem Siegeszug des IS im Jahr 2014 dominiert das Interesse an der Terrorismusbekämpfung die Politik im Westen.
Gerade vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise 2015 sind viele westliche Akteure damit zufrieden, dass das Assad-Regime einen großen Teil des Landes noch kontrolliert. Dort wohnen noch immerhin zehn Millionen Menschen. Die Furcht, dass Syrien vollkommen zusammenbricht - und dann auch die Einwohner großer Städte wie etwa Damaskus, Hama, Homs oder Latakia auch Richtung Europa ziehen, ist enorm. Deswegen wollen die USA und ihre Verbündeten auch nicht mehr, dass das Regime gestürzt wird.
"Keine Hoffnung auf Friedensgespräche"
tagesschau.de: Die Syrien-Friedensgespräche in Genf sind faktisch gescheitert. Was muss sich ändern, dass die Verhandlungen - wenn sie wieder aufgenommen werden - zum Erfolg werden?
Steinberg: Für die Friedensgespräche sehe ich kurzfristig keine Hoffnung. Das Assad-Regime ist erstarkt. Es erreicht wichtige Ziele und hat - zumindest bis zur Präsidentenwahl in den USA - weitgehend freie Hand. Es gibt maximal die Chance, humanitäre Erleichterungen, beispielsweise für die Bevölkerung von Ost-Aleppo, zu erreichen. Längerfristig werden die Friedensgespräche nur dann wieder an Bedeutung gewinnen, wenn das Assad-Regime unter Druck gerät. Danach sieht es im Moment aber nicht aus. Und deswegen haben Friedensverhandlungen keine Chance.
tagesschau.de: Was muss passieren, damit wenigstens eine Waffenruhe in Kraft tritt, die dann auch eingehalten wird?
Steinberg: Immerhin wurde die Waffenruhe nach dem Abschluss am 27. Februar einige Wochen halbwegs eingehalten. Das war ein Indiz dafür, dass Russen und Amerikaner durchaus Möglichkeiten haben, Druck auszuüben, wenn sie sich einig sind. Meiner Ansicht nach liegt in der Abstimmung zwischen Amerikanern und Russen der Schlüssel dafür, um zumindest die humanitäre Situation zu verbessern. Allerdings: Eine politische Lösung werden diese beiden alleine nicht erzwingen können. Und das wiederum hängt unter anderem mit dem starken Einfluss Irans zusammen.
Das Interview führte Jörn Unsöld, tagesschau.de.