Frans Timmermans im Interview "Der Green Deal ist unsere Strategie"
Aus der Wirtschaft kommt Kritik, in der Corona-Krise strenge Umweltauflagen zu erfüllen. Doch EU-Kommissionsvize Timmermans betont, dass nachhaltiges Wirtschaften Pflicht gegenüber kommenden Generationen ist.
tagesschau.de: Herr Timmermans, als Klimakommissar sind Sie zuständig für den Green Deal, den klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft in Europa. Das ist eins der wichtigsten Projekte der EU-Kommission gewesen. Jetzt hören wir immer mehr Stimmen, die sagen, der Green Deal sei im Moment nicht möglich, die Industrie liege am Boden, sie könne jetzt beim Wiederaufbau nicht noch neue Umweltauflagen erfüllen. Was meinen Sie dazu?
Frans Timmermans: Der Green Deal ist unsere Wirtschaftsstrategie. Das ist nicht etwas Schönes, was man dann hinzufügt, sondern das ist etwas Notwendiges, damit wir unsere Wirtschaft von Anfang an gut gestalten. Es wird in vielen Bereichen einen Strukturwandel geben, wie wir ihn selten gesehen haben. Diese Corona-Krise wird enorme Konsequenzen für die Wirtschaft haben. Die Welt kommt nicht mehr zurück, wie sie vor der Corona-Krise war. Ich glaube, in der Wirtschaft weiß man, dass nur nachhaltiges Wirtschaften auf Dauer Gewinne und Jobs liefern wird. Wir dürfen nicht den Riesenfehler machen, dass wir in eine Wirtschaft investieren, die nicht nachhaltig ist. Die muss dann nachher umgebaut werden und dann haben wir kein Geld mehr für diesen Umbau.
Der Sozialdemokrat hat in den vergangenen Wochen immer wieder betont, dass die Corona-Krise kein Grund sei, den Green Deal - das Prestigeprojekt der EU-Kommission - zu vernachlässigen.
tagesschau.de: Wie wollen Sie das Reformprogramm mit den strengen Umweltauflagen denn in der Industrie durchsetzen?
Timmermans: Ich glaube, wir sind uns im Grunde einig mit der Industrie. Die Stahlindustrie in Deutschland zum Beispiel: Die wissen ganz genau, dass sie in Zukunft einen "grünen" Stahl machen müssen und dass Wasserstoff dazu unbedingt notwendig ist. Ich glaube, unser Streit wird eher ein politischer Streit sein. Es wird schwieriger, die Öffentlichkeit und die Politiker zu überzeugen als unsere Wirtschaft.
Kritik an Deutschland
tagesschau.de: Aus der Autoindustrie kommen andere Signale. Da möchte man Kaufprämien für alle Motoren haben. Und auch der deutsche Wirtschaftsminister sieht nicht, dass Kaufprämien nur an klimafreundliche Autos gehen sollen.
Timmermans: Dass wir unsere Autoindustrie retten müssen, das ist ein europäisches Anliegen, nicht nur ein deutsches. Ich würde aber sagen, wir müssen auch dafür sorgen, dass wir mehr Elektromobilität haben, damit wir mehr Autos haben, die unter der 95-Gramm-Grenze bleiben. Das ist für ein nachhaltiges Europa sehr wichtig. Und wenn wir Abwrackprogramme machen, warum dann nicht ökologische Abwrackprogramme? Ich glaube, es gibt auf der europäischen Ebene viel Unterstützung dafür. Während der deutsche Minister Altmaier noch über eine allgemeine Förderung redet, ist die französische Regierung schon dabei zu sagen, dass Abwrackprogramme ökologisch sein müssen.
Wenn Schulden, dann für Nachhaltigkeit
tagesschau.de: Was erwarten Sie in den anstehenden Verhandlungen von Deutschland, wenn es um die Umsetzung eines klimafreundlichen Wiederaufbauprogramms geht?
Timmermans: Vielleicht kann das folgende Argument die Öffentlichkeit und Politiker auch in Deutschland überzeugen: Wenn wir aus dieser Krise herauskommen wollen, dann müssen wir viel, viel investieren. Das wird auch zu mehr Schulden führen. Wer wird denn diese Schulden tragen? Das sind doch unsere Kinder und Enkelkinder. Was für eine Welt bieten wir dann unseren Kindern und Enkelkindern an, wenn wir sagen: Wir bekommen extra Schulden, aber keine saubere Welt und keine ökologisch verantwortliche Politik? Das ist doch nicht vermittelbar. Man kann das doch nicht unseren Kindern zumuten zu sagen: Okay, wir werden investieren. Das führt zu mehr Schulden. Aber die Investitionen gehen in die alte Wirtschaft. Das werden unsere Kinder nicht akzeptieren. Unsere Mittel werden wegen der Corona-Krise beschränkt sein. Wir können diese Euros nur einmal ausgeben. Deshalb haben wir der kommenden Generation gegenüber die Verantwortung, dass wir nachhaltig investieren.
tagesschau.de: Die EU-Kommission muss jetzt unter großem Zeitdruck ein Wiederaufbauprogramm vorlegen. Die Rede ist von einer Billion Euro, vielleicht sogar noch mehr. Dazu der Green Deal, der für sich genommen schon ein Jahrhundertprojekt ist. Und dann soll das Ganze auch noch verknüpft werden mit dem Gemeinschaftshaushalt der EU, dem Finanzrahmen für die kommenden sieben Jahre. Halten Sie das für realistisch?
Timmermans: Wir müssen dafür sorgen, dass wir aus dieser Krise nachhaltig kommen, dass wir aus dem Green Deal unsere Wachstumsstrategie machen. Damit wir auch Europa sauberer machen, widerstandsfähiger und wettbewerbsfähiger. Und dazu muss es auch grün werden.
"Die Klimakrise ist nicht weg"
tagesschau.de: Es gibt schon jetzt viele nationale Hilfsmaßnahmen, milliardenschwere Hilfspakete allein in Deutschland. In vielen Programmen spielen ökologische Auflagen gar keine Rolle. Welche Möglichkeiten hat die EU-Kommission, da überhaupt noch steuernd einzuwirken?
Timmermans: Auf unserer Prioritätenliste steht die Klimakrise im Moment nicht oben. Das ist logisch, es ging zunächst um Überlebensfragen in der Corona-Pandemie. Aber die Klimakrise ist nicht weg. Sie ist noch immer da.
Europäisches Wiederaufbauprogramm noch im Mai
tagesschau.de: Wann kommt das Wiederaufbauprogramm der Kommission?
Timmermans: Noch in diesem Monat, im Mai. Es gibt aber noch viel Arbeit, vor allem in den Mitgliedsstaaten. Meine größte Sorge ist, dass der Abstand zwischen den Ländern jetzt wirklich zu groß wird. Wir brauchen eine Annäherung. Und wir müssen uns befreien von den Gespenstern von gestern, dass wir nicht wieder die Fehler machen, die wir in 2008 und 2009 gemacht haben und einzelne sagen: Wir wissen, wie es geht, die anderen wissen es nicht.
tagesschau.de: An welche Länder denken Sie?
Timmermans: Naja, Sie wissen doch, ich komme aus einem Land, aus den Niederlanden, wo man sagt: Leute, das darf nicht zu viel kosten. Sie haben gesehen, dass es in den vergangenen Monaten zu Enttäuschungen geführt hat, wenn ein holländischer Minister sich auf eine Art und Weise geäußert hat, die im Süden Europas als beleidigend empfunden wurde. Das brauchen wir jetzt nicht. Deutschland kann massiv Investitionen machen. Das können die Niederlande auch. Andere können das nicht. Aber auch die reichen Länder müssen sich darüber bewusst sein: Wenn einer von uns stolpert, fallen wir alle hin. Es ist nicht so, dass ein Land alleine hier gut rauskommt. Hier kommen wir nur gemeinsam als Europäer raus - oder wir kommen gar nicht raus.
Das Gespräch führten Helga Schmidt und Michael Grytz, ARD-Studio Brüssel.
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