Banda Aceh - fünf Jahre nach dem Tsunami Die grausamen Bilder bleiben
Fast fünf Jahre ist es her, dass der gigantische Tsunami die Küsten Südostasiens überrollte. Hunderttausende fanden damals den Tod. In der besonders schwer getroffenen indonesischen Provinz Aceh geht es heute vielen dank internationaler Hilfe wirtschaftlich besser als vorher. Aber vergessen kann die Katastrophe dort niemand.
Von Monika Schäfer für tagesschau.de
"Plötzlich zog sich das Meer zurück und am Horizont bildeten sich Blasen, als ob der Ozean kochen würde. Da wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Dann näherte sich uns eine riesige Welle, wie eine graue Wand." Familienvater Udin aus Banda Aceh an der Nordspitze Sumatras hält inne, als er erzählt, wie ihn die Tsunami-Welle um ein Haar in den Tod gerissen hätte. Fast auf den Tag fünf Jahre ist das jetzt her.
Der schmale Mann, kaum größer als ein Meter sechzig, war fischen, als die gigantische Welle die Küsten Südostasiens überrollte. Jeden Sonntag holte Udin seinen besten Freund Ukok zum Angeln ab. Die beiden Männer fuhren raus aus der Stadt zu ihrem Stammplatz, einem felsigen Hügel, der weit in den Indischen Ozean hineinreicht. An jenem Sonntag, den 26. Dezember 2004, hatten sie kein Glück. Hatten weder einen Red Snapper noch einen Thunfisch am Haken, erinnert sich Udin: "Und dann wurde es auf einmal furchtbar laut. Die Erde bebte."
Der Strand von Leupung. Auf dem Hügel harrte Udin aus, bis das Wasser endlich zurückwich.
Als die Riesenwelle sich ihnen näherte, rannten Udin und Ucok den Hügel hoch. Aber sie waren nicht schnell genug, die Wassermassen holten sie ein und rissen sie mit. Udin klammerte sich mit aller Kraft an einem Baumstamm fest, das rettete ihm das Leben. Ucok, der nur Halt am Fels gefunden hatte, wurde fortgerissen. Udin hat ihn nie wieder gesehen.
"Da musste ich heulen wie ein kleines Kind"
Wir stehen am Strand von Leupung, sechzehn Kilometer von der Stadt entfernt. Der Indische Ozean ist spiegelglatt, nur die zerstörte Zementfabrik in der Nähe erinnert noch an den Tsunami. Udin zeigt mir den Felshügel, wo es passierte. Stundenlang habe er damals auf dessen Spitze ausgeharrt, bis das Wasser endlich zurückwich.
Als er in die Stadt zurück lief, sah er die unzähligen Leichen am Strand. Aufgedunsene Körper, fast alle nackt. Irgendwann stand er schließlich vor seinem Haus, vier Kilometer vom Meer entfernt, und wollte am liebsten sofort wieder kehrtmachen: Denn dort, wo einmal sein Haus gestanden hatte, war nichts mehr - nur noch ein Haufen Schlamm und Schutt. "Da musste ich heulen wie ein kleines Kind", erinnert er sich. "Ich hatte nur einen Gedanken im Kopf: Wo ist meine Familie?" Udin ist verheiratet und hat zwei Söhne, sein Jüngster war damals gerade mal ein halbes Jahr alt.
Wie Tausende andere machte er sich auf die Suche nach seiner Familie - und hatte Glück: Nach einer Odyssee durch das verwüstete Banda Aceh fand er sie am Haus seines Bruders wieder. Seine Frau hatte sich mit den beiden Söhnen auf dem Moped in Sicherheit bringen können. Ein kleines Wunder, denn allein in der Provinz Aceh riss der Tsunami fast 170.000 Menschen in den Tod, 500.000 wurden obdachlos.
Wir fahren zu Udins Wohnviertel, vorbei an einem Fischerboot auf dem Dach eines zerstörten Hauses. Die Tsunami-Welle hatte das Holzboot bis hierher in die Stadt gespült. Alle 59 Fischer an Bord wurden gerettet, daher wird das Boot auch "Arche Noah" genannt - und blieb bis heute dort liegen.
Die "Arche Noah" - die gesamte Besatzung dieses Fischerbootes überlebte den Tsunami.
Wir passieren im Stadtzentrum ein riesiges stählernes Kraftwerkschiff, die "Apung 1", einige Kilometer von der Küste entfernt. Früher einmal hatte es Teile der Stadt mit Strom versorgt. Die meterhohe Welle spülte es ins Landesinnere, wo es auf Häuser krachte. Jetzt liegt es wie ein Mahnmahl im neu angelegten "Tsunami Educational Park". Direkt daneben haben Händler Stände aufgebaut und verkaufen den wenigen Touristen T-Shirts. Fünf Dollar das Stück, mit dem Aufdruck "The Legend of Tsunami - Aceh, 26th December 2004".
Milliarden für Aceh
Im ganzen Stadtgebiet stehen heute neue einstöckige Häuser. Alle sind gleich groß: 36 Quadratmeter, zwei Zimmer, Küche, einfaches Bad mit Stehklo und kaltem Wasser. Auch Udin hat ein neues Haus bekommen, direkt auf seinem alten Grundstück. Finanziert hat es die Hilfsorganisation Oxfam aus Großbritannien, die Baukosten lagen bei gerade einmal 5000 Euro.
Neue Bleibe für die Tsunami-Überlebenden. Insgesamt 140.000 Häuser wurden allein in Aceh gebaut.
Der Welle der Vernichtung folgte die weltweite Welle der Hilfsbereitschaft: Spendengelder in Milliardenhöhe flossen in die Küstenregion Aceh. Allein die Deutschen gaben 670 Millionen Euro. Über fünfhundert Hilfswerke aus mehr als fünfzig Ländern bauten 140.000 Häuser, 1500 Schulgebäude und mehr als tausend Krankenstationen und Kliniken, installierten Wasserleitungen und erneuerten Straßen und Brücken.
Die Gefahr ist nicht gebannt
Neben dem Hafen und dem modernen Flughafen sind auch die vielen Schilder neu, die auf Fluchtwege hinweisen - für den Fall, dass wieder ein Tsunami die Region überrollen sollte. Denn dies könnte durchaus möglich sein in der erdbebengeplagten Gegend. "Es gibt gewisse Wahrscheinlichkeiten, doch genaue Vorhersagen, wann und wo es wieder einen Tsunami geben könnte, sind nach derzeitigem Stand der Wissenschaft nicht möglich", erklärt der Seismologe Lars Ceranna von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Hannover.
Und verweist auf das von Deutschland entwickelte Erdbeben- und Tsunami-Frühwarnsystem für Indonesien, das die Zeit bis zur Warnung deutlich verkürzt. Doch alle Technik reiche nicht aus. Die größte Herausforderung sieht Ceranna vielmehr darin, die Warnung rechtzeitig an die Betroffenen vor Ort zu übermitteln. Etwa indem man ihnen Nachrichten aufs Handy schickt, oder der Muezzin von der Moschee aus vor drohenden Tsunamis warnt.
Heute, fünf Jahre nach der Katastrophe, ist Aceh besser auf einen Tsunami vorbereitet. Ob das allerdings im Ernstfall ausreicht, kann niemand sagen.
Udin übt regelmäßig mit seinen Kindern, wie sie sich im Ernstfall verhalten sollen. Sein älterer Sohn Lutfi hat auch schon mit der Schulklasse das neue Tsunami-Museum in Banda Aceh besucht. Der schiffförmige Bau wurde vom indonesischen Architekten Ridwan Kamil entworfen. Bei einer Katastrophe soll er den Menschen Schutz bieten. Noch ist das Museum leer, im kommenden Jahr sollen erste Ausstellungen gezeigt werden.
Die Welle brachte der Provinz den Frieden
Udin findet, durch das Museum könnten auch spätere Generationen begreifen, was die Todeswelle angerichtet hat. "Immerhin haben wir heute Frieden", meint er nachdenklich. Denn vor dem Tsunami herrschte in der Provinz Aceh Bürgerkrieg. Fast dreißig Jahre lang kämpfte die Guerillabewegung Freies Aceh (GAM) gegen indonesische Sicherheitskräfte, für die Ablösung von der Zentralregierung in Jakarta und die Errichtung eines islamischen Gottesstaates. Ein Freund von Udin war bei der GAM, er wurde festgenommen und ertrank in der Zelle, als die Tsunami-Welle sein Gefängnis erfasste. Nur achtzehn Tage später hätte er wieder in die Freiheit entlassen werden sollen.
Das Tsunami-Museum in Banda Aceh: Der schiffförmige Bau soll im Ernstfall auch dem Schutz der Menschen dienen.
Nach der Naturkatastrophe riefen die Rebellen einen Waffenstillstand aus. Im Gegenzug ließ die Regierung Hilfsorganisation einreisen und versprach den Acehsen eine gewisse Autonomie. Unter Vermittlung des früheren finnischen Präsidenten Martti Ahtisaari wurde der Bürgerkrieg im August 2005 beendet. Seitdem forschen Dutzende Politikwissenschaftler, warum der Tsunami den Acehsen auch den Frieden gebracht hat - und nicht nur wirtschaftlichen Fortschritt.
Finanziell geht es vielen heute besser
Wirtschaftlich hat auch Udin vom Tsunami profitiert. Zwar hat das Meer die Speditionsfirma zerstört, für die er arbeitete, aber im Sommer 2005 bekam er durch Zufall einen gut bezahlten Job als Chauffeur für einen Wiederaufbau-Experten.
Die meisten Projekte der Hilfsorganisationen laufen jedoch zum Jahresende aus, und mit ihnen wird auch ein großer Teil der Wirtschaftskraft die Tsunami-Gebiete wieder verlassen. Es fehlt an langfristigen Investitionen. Angst, seinen Job zu verlieren, hat Udin nicht. Zur Not würde er sich eben als Gelegenheitsarbeiter in einer Kfz-Werkstatt durchschlagen, meint er.
Die Straßen in Aceh sind heute voller Autos. Viele, die vor dem Tsunami Moped fuhren, besitzen jetzt einen Geländewagen. Was Udin quält, sind die Erinnerungen an damals, die grausamen Bilder im Kopf, von Leichenbergen und von seinem Zuhause in Schlamm und Schutt. Die kann er nicht vergessen, sagt Udin, auch heute nicht. Fünf Jahre danach.