Österreich kritisiert Türkei "EU-Beitritt über Jahrzehnte unmöglich"
Der österreichische Kanzler Kern steht durch den Rechtsruck im eigenen Land unter Druck - und hat nun angeregt, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen. Von türkischen Politikern erntete er dafür heftige Kritik.
Von Ralf Borchard, ARD-Studio Wien
Die Regierung in Wien fordert eine härtere Haltung gegenüber der Türkei und stellt sich damit gegen die weiter abwartende und vorsichtig kooperative Linie in Berlin und Brüssel. Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern fordert, beim nächsten EU-Gipfel den Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu diskutieren: "Die Beitrittsverhandlungen, wie sie jetzt laufen, sind eigentlich nur noch eine diplomatische Fiktion. Wir wissen, dass die demokratischen Standards in der Türkei bei weitem nicht ausreichen", kritisierte er im TV-Interview. "Aber mindestens so gravierend ist auch die wirtschaftliche Frage, weil die Volkswirtschaft der Türkei so weit weg von einem europäischen Durchschnitt ist, da gibt es solche wirtschaftlichen Disparitäten, dass wir einen Beitritt schon aus einfachen ökonomischen Gründen wahrscheinlich kaum rechtfertigen könnten."
"Beitritt ist Ding der Unmöglichkeit"
Die EU müsse ihre Türkei-Politik ganz grundsätzlich überdenken, so Kern im ORF. "Ich denke, dass wir da alle miteinander gut beraten sind, zu sagen, wir drücken da jetzt einmal den Reset-Knopf und überlegen in welche Richtung das gehen kann. Ich halte einen Beitritt der Türkei auf Jahre, wenn nicht auf Jahrzehnte, für ein Ding der Unmöglichkeit."
Weil die Türkei eine realistische Perspektive der Heranführung brauche, müsse man sich einen neuen Weg überlegen, forderte Kern. Den Zorn Ankaras fürchtet der österreichische Kanzler nicht. Das Flüchtlings-Abkommen mit der Türkei sei nicht an die EU-Beitrittsverhandlungen gekoppelt. Und am Ende sitze eher die Europäische Union am längeren Hebel: "Wir sind gegenüber der Türkei kein Bittsteller. Wir sind einer der größten Investoren. Der türkische Tourismus hängt an uns", erinnert Kern.
"Ich war immer skeptisch"
Zuvor hatte schon der österreichische Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil den Flüchtlings-Deal mit der Türkei in Frage gestellt. "Ich war immer sehr skeptisch, was diese Vereinbarung und diesen Deal mit der Türkei betrifft. Und ich habe immer gesagt, das ist ein Zeitfenster für Europa. Es bedarf einer entsprechenden effektiven Außenschutzgrenzsicherung."
So hat Österreich Ungarn Unterstützung bei der Sicherung des Grenzzauns zu Serbien zugesagt. 20 österreichische Polizisten sind bereits an der ungarisch-serbischen Grenze, auch über die Entsendung österreichischer Soldaten nach Ungarn wird verhandelt.
Europaminister Ömer Celik erklärte: "Wenn ich ehrlich sein soll, finde ich es äußerst störend, dass diese Art von Ansatz so sehr Ähnlichkeit mit dem Ansatz der Rechtsextremisten in Europa aufweist."
SPÖ unter Druck von rechts
Die EU-Staaten müssten endlich selbst mehr für die Sicherung ihrer Außengrenzen tun und abgelehnte Asylbewerber konsequenter abschieben, so Doskozil: "Das ist die dringendste Aufgabe der Europäischen Union, hier Rückführungsabkommen und Rückführungen durchzuführen."
Die Aussagen Kerns und Doskozils - beide Sozialdemokraten - haben auch eine innenpolitische Komponente: Zum einen will die SPÖ nicht hinter dem Koalitionspartner ÖVP zurückstehen. Auch ÖVP-Außenminister Sebastian Kurz hatte mehrfach eine härtere Türkei-Politik gefordert. Und beide Koalitionsparteien fühlen sich von der rechtspopulistischen FPÖ unter Druck gesetzt. Der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer hofft, Anfang Oktober die Wiederholung der Präsidenten-Stichwahl in Österreich zu gewinnen.