Interview

Türkeiexperte zum Ausgang der Kommunalwahl "Erdogan treibt Land in die Polarisierung"

Stand: 31.03.2014 16:17 Uhr

Trotz autokratischen Führungsstils und Internetzensur fährt Erdogan bei den Kommunalwahlen einen satten Sieg ein. Der Regierungschef habe den Türken ihren Stolz zurückgegeben, meint Nahost-Experte Udo Steinbach im Gespräch mit tagesschau.de. Aber sein Politik-Verständnis sei zutiefst antidemokratisch.

tagesschau.de: Waren Sie vom Ausgang der Kommunalwahlen überrascht?

Udo Steinbach: Ich war nicht überrascht. Ich hatte zwar lange geglaubt, dass das Wahlergebnis schlechter ausfallen würde, aber in den letzten Tagen hat Recep Tayyip Erdogan die Bevölkerung enorm mobilisieren können. Große Massen auf dem Land aber auch in Istanbul sind zu seinen Veranstaltungen gepilgert. Der Wahlausgang ist ein deutliches Zeichen dafür, dass eine Mehrheit in der Türkei hinter ihm steht und seiner Propaganda glaubt.

tagesschau.de: Was sind die Gründe für seinen Erfolg?

Steinbach: Zum einen liegt es an der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Vielen Menschen geht es sehr viel besser als noch vor Jahren. Sie verbinden den wirtschaftlichen Aufschwung mit Erdogan. Die Türkei könnte in den nächsten Jahren zur zehnt größten Wirtschaftsmacht aufzusteigen. Das hat auch psychologische Auswirkungen auf das Selbstverständnis und die Identität der Türken. Erdogan hat den Türken ihren Stolz wiedergegeben. Zum anderen liegt es an der konservativ geprägten Bevölkerung auf dem Land. Eine breite Mehrheit dort unterstützt Erdogans konservativ-islamistisch geprägten Kurs. In den Provinzen ist die Skepsis gegenüber den westlichen Demokratien und auch gegenüber den jungen, westlich orientierten Demonstranten vom Gezi-Park groß.

Zur Person
Der Türkeiexperte Udo Steinbach war bis 2008 Direktor des GIGA-Instituts für Nahoststudien in Hamburg. Seit 2012 ist er Leiter des Bereichs Middle East/North Africa an der HUMBOLDT-VIADRINA School/ Berlin.

tagesschau.de: In unserer Wahrnehmung sind die Demonstranten eine ganz starke Kraft in der Türkei. Haben wir ein falsches Bild von dem Land?

Steinbach: Wir hatten ein falsches Bild von Erdogan. Seine Politik hat die Protestbewegung, wie wir sie im Gezi-Park erlebt haben, ja provoziert. Er hat ein zutiefst antidemokratisches Verständnis von Staat und Gesellschaft. Und spätestens seit seinem Wahlsieg von 2011 ist er zum Autokraten geworden. Der Westen hat sich also getäuscht, wenn er Erdogan als Partner beim Prozess der Demokratisierung und Westbindung des Landes gesehen hat.

tagesschau.de: Erdogan spricht jetzt von der "Geburtsstunde der neuen Türkei". Was meint er damit konkret? 

Steinbach: Er bekräftigt damit seinen Kurs. Wir werden einen stark autokratischen Führungsstil erleben - mit wachsenden Repressionen gegenüber der Opposition. Außerdem wird Erdogan seinen Kurs der Islamisierung noch entschiedener durchsetzen. Wir werden es mit einer konservativen und unberechenbaren Türkei zu tun haben.

"Der Annäherungsprozess zwischen Türkei und EU ist zerbrochen"

tagesschau.de: Vor welche Herausforderungen stellt der Wahlausgang den Westen?

Steinbach: Es ist ein Dilemma für die Europäische Union und den Westen. Man hoffte ja, dass durch die Protestbewegung rund um den Gezi-Park das Land sich dem Westen ein wenig öffnet. Die Hoffnungen haben sich als Trugschluss erwiesen. Im Gegenteil: Das Land entfernt sich von den westlichen Demokratien. Der Annäherungsprozess zwischen der Türkei und der EU ist nachhaltig unterbrochen. Dennoch hat die Türkei eine wichtige strategische Bedeutung mit Blick auf den Bürgerkrieg in Syrien. Vor diesem Hintergrund muss der Westen sehr zurückhaltend mit seiner Kritik an Regierungschef Erdogan sein, obwohl dieser in seiner Innenpolitik von den Wertvorstellungen des Westens und auch der USA immer stärker abrückt.

tagesschau.de: Wie kann der Westen noch Einfluss nehmen auf die Entwicklungen in der Türkei?

Steinbach: Die Möglichkeiten der Einflussnahme sind derzeit gering. Wir können nur hoffen, dass es im politischen Establishment der AKP zu Verwerfungen und einem Richtungsstreit kommt. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass es innerhalb der Partei Bruchlinien gibt. So hat zum Beispiel Staatspräsident Abdullah Gül in den vergangenen Monaten immer wieder Rechtsstaatlichkeit und Demokratie angemahnt und klar gemacht, dass der Modernisierungsprozess in der Türkei untrennbar verbunden ist mit der Annäherung an die EU. Wie stark dieser Flügel in der AKP ist, lässt sich derzeit schwer einschätzen.

"Ein zutiefst gespaltenes Land"

tagesschau.de: Wo steht die Türkei zwischen Islamismus und westlicher Welt?

Steinbach: Die Türkei ist ein zutiefst gespaltenes Land. Wir werden dies in den nächsten Jahren noch verschärft beobachten. Da sind die modernen jungen und gebildeten Schichten, die über die sozialen Netzwerke mit den westlichen Werten verbunden sind und für Demokratie kämpfen. Und es gibt die breite konservativ eingestellte Bevölkerungsschicht - vor allem natürlich in den Provinzen. Diese Spannung wird verstärkt durch soziale Proteste ausgetragen werden, weil es keine politische Opposition im Land gibt, welche die westlich orientierten Kräfte repräsentiert. Je stärker Erdogan seinen konservativ islamischen Kurs mit dem traditionellen Rollenbild der Frau, dem Verbot von Alkohol, dem Sperren von Internetseiten verfolgt, desto mehr treibt er das Land in die Polarsierung. Und die kann zu einer Destabilisierung und Stärkung der extremistischen Kräfte führen.

tagesschau.de: Ist die EU mit ihrem Kurs der Annäherung, ohne dabei konkrete Beitrittsperspektiven zu geben, gescheitert?

Steinbach: Es ist sehr schade, dass zwischen der Türkei und der EU bezüglich einer echten Annäherung nicht viel geschehen ist. Wir sind auf der Stelle getreten. Währenddessen ist die Türkei immer stärker in die Polarisierung hineingeraten. Es ist sehr schwer, jetzt einen ernsthaften politischen Dialog aufzunehmen, mit einem Regierungschef, der die Annäherung an den Westen nicht will und stattdessen eine starke islamische konservative Türkei anstrebt.

tagesschau.de: Hätte die EU der Türkei mehr anbieten müssen?

Steinbach: Es gab in der EU immer einerseits ein starkes Bewusstsein für die strategische Bedeutung der Türkei, andererseits starke Vorbehalte gegen einen Beitritt des Landes. Das Gerede von der privilegierten Partnerschaft hat viele Türken zutiefst verstört und einen Mann wie Erdogan dazu gebracht, seinen eigenen Weg zu gehen. Er bekommt dafür auch deshalb so viel Zuspruch, weil die Enttäuschung vieler Türken über die EU sehr groß ist.

tagesschau.de: Was kann die EU jetzt besser machen?

Steinbach: Im Moment sind die Handlungsoptionen sehr begrenzt. Denn der Westen braucht die Türkei im Hinblick auf Syrien. Vor diesem Hintergrund hat die Türkei außenpolitisch eine starke Stellung. Innenpolitisch ist Erdogan nach den Wahlen gestärkt. Für Kritik aus dem Westen ist da derzeit wohl kein offenes Ohr.

Das Interview führte Simone von Stosch, tagesschau.de.