Abkommen zwischen Armenien und Türkei Skepsis in Armenien über Annäherung an die Türkei
Die verfeindeten Nachbarn Armenien und die Türkei gehen aufeinander zu und wollen ein historisches Abkommen unterzeichnen: Darin werden die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Öffnung der Grenzen vereinbart. Doch viele Armenier sind skeptisch. Sie befürchten den Ausverkauf ihrer nationalen Interessen.
Von Silvia Stöber, tagesschau.de, zzt. Jerewan
Vor dem Außenministerium und dem Gebäude der Regierung sitzen auf bunten Plastikhockern etwa 50 Anhänger der nationalistischen Partei Daschnakzutjun. Beobachtet von mal mehr, mal weniger Polizisten haben sich die "Daschnaks" auf eher leisen Protest verlegt. 15 von ihnen sind im Hungerstreik. Auf Spruchbändern beklagen sie den Ausverkauf armenischer Interessen an das Nachbarland Türkei, das sie noch immer als Feind betrachten.
Streit um Todeszahlen
An den Grund für die Feindschaft erinnern die Demonstranten mit Fotos auf Plakatwänden: Armenien wirft der Türkei einen Genozid an 1,5 Millionen Armeniern zwischen 1915 und 1923 vor. Die Türkei bestreitet, dass es sich um Genozid handelt, nennt die Zahlen übertrieben und behauptet, es seien Opfer eines Bürgerkrieges, bei dem auch Türken getötet worden seien.
Zur Untersuchung dieser Ereignisse soll eine gemeinsame Historiker-Kommission eingerichtet werden. Diese Vereinbarung ist Teil eines Abkommens, das Außenminister Eduard Nalbandian mit seinem türkischen Amtskollegen Achmet Davutoglu in Zürich unterzeichnen wird. Es beinhaltet zwei Protokolle, die in den kommenden Monaten auch von den Parlamenten beider Länder ratifiziert werden sollen. Das erste besiegelt die Aufnahme diplomatischer Beziehungen.
Armenische Diaspora übt Druck aus
Das zweite Protokoll enthält die Vereinbarung zur Gründung der Historiker-Kommission, die die nationalistischen "Daschnaks" als inakzeptabel bezeichnen. "Wie kann man nur mit den Mördern von damals über etwas diskutieren, was nicht in Frage zu stellen ist?", fragt der Abgeordnete Schahbasjan und weiß sich in dieser Argumentation einig mit vielen im Ausland lebenden Armeniern. Die Diaspora ist nicht nur radikaler eingestellt als die Menschen in Armenien, sie ist auch in der Überzahl. Außerhalb Armeniens leben mehr als fünf Millionen Armenier, in ihrem Heimatland nur drei Millionen. Einen Großteil der Investitionen leisten die Auslandsarmenier.
Allerdings sanken die Investitionen aufgrund der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise erheblich und das Land war arg vom Krieg 2008 in Georgien betroffen. Über den nördlichen Nachbarn muss Armenien angesichts weitgehend geschlossener Grenzen zu den anderen Nachbarländern 90 Prozent seines Transitverkehrs abwickeln. Als während des Krieges die Hauptroute Georgiens blockiert war, kam der Transport nach Armenien fast zum Erliegen.
Wirtschaftskrise lässt armenische Regierung einlenken
Schaut man sich in Jerewan um, sieht man die Folgen der Wirtschaftskrise. Neue Pretigebauten stehen leer, ihr Innenausbau kommt seit einem Jahr nicht voran. So ist es nachvollziehbar, dass sich die armenische Regierung unter Druck internationaler Vermittler auf die Türkei zubewegt. Der Lohn ist die Öffnung der Grenzen zur Türkei. Sie ist zwei Monate nach Ratifizierung des zweiten Protokolls durch die Parlamente vorgesehen. Weniger radikale Oppositionelle wie Ex-Präsident Lewon Ter-Petrosjan begrüßen deshalb prinzipiell eine Annäherung an die Türkei. Doch warnen sie, dass Armenien einen zu hohen Preis zahlen und am Ende doch nichts bekommen könnte.
Denn Politiker in der Türkei machen die Öffnung der Grenze von einem weiteren Punkt abhängig, der in den Protokollen gar nicht erwähnt ist: Nur wenn es eine Annäherung im Konflikt um Berg-Karabach gibt, darf die Grenze geöffnet werden, fordern sie mit Blick auf den noch immer bestehenden Grund für die Schließung. 1993 hatten armenische Truppen die Kontrolle über Berg-Karabach übernommen. Das überwiegend von Armeniern bewohnte Gebiet gehört zu Aserbaidschan, einem engen Verbündeten der Türkei.
"Wenn die armenische Regierung beide Themen voneinander trennen will, ist das eher Wunsch als Realität", sagt der armenische Rechtsexperte Wartan Pogosjan dazu. So könnte es sein, dass das türkische Parlament die Ratifizierung des Protokolls hinauszögert, bis Armenien auch beim Thema Berg-Karabach einlenkt. Oder, wie ein Gemüsehändler in Jerewans größter Markthalle argwöhnt: Die Grenzen könnten lediglich für kurze Zeit geöffnet und Warentransporte nicht zugelassen werden.
Kaum Resonanz in der Bevölkerung
In der Markthalle wie auch auf den Straßen Jerewans ist das Abkommen kaum Gesprächsthema. "Das wird doch sowieso alles über unsere Köpfe hinweg entschieden", sagt Obsthändler Artur, der lieber seine getrockneten Früchte anpreist. Onnik Krikorian, Journalist und leidenschaftlicher Blogger, hat den Eindruck, dass die meisten Armenier kaum eine Meinung zu den Protokollen haben. Dabei sei doch eine Annäherung mit der Türkei zu begrüßen. Aber die Öffentlichkeit sei zu lange und zu sehr im Unklaren gelassen worden, auch um der Opposition keine Chance für eine groß angelegte Gegenkampagne zu geben, sagt Krikorian. Die Opposition wiederum sehe es zu sehr auf Rücktrittsforderungen an die Regierung von Präsident Serge Sargsjan ab.
Druck aus den USA
Trotz der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierung und ihrer Politik geht Rechtsexperte Pogosjan davon aus, dass die Parlamente sowohl in Armenien und als auch in der Türkei das erste und das zweite Protokoll ratifizieren werden. Beide Regierungen verfügen über sichere Mehrheiten. Geschehen werde dies bis zum 24. April, dem Gedenktag an die Massentötungen an den Armeniern, ist sich Pogosjan sicher. Dafür werde auch Druck aus den USA sorgen. Das Prestige von US-Präsident Barack Obama in dieser Frage stehe auf dem Spiel, da er sich im April für eine Annäherung beider Länder stark gemacht hatte.
Die Anhänger der nationalistischen "Daschnakzutjun" wollen sich von internationalem Druck nicht beeinflussen lassen und auch nach der Unterzeichnung der Protokolle am "Platz der Republik" ausharren, sagt der Parlamentsabgeordnete Schahbasjan. Während inzwischen auf der Tribüne am "Platz der Republik" ein Chor für die 2791-Jahr-Feier Jerewan probt und in der Fußgängerzone junge Leute flanieren, versammeln sich mehr als 10.000 Menschen um die "Daschnaks" am Außenministerium. Sie marschieren zum Präsidentenpalast und dem Völkermord-Denkmal. Ob daraus noch eine länger andauernde Protestwelle gegen die Regierung wird, ist jedoch fraglich. Denn in den vergangenen Wochen konnten die Nationalisten nur wenige Tausend Menschen mobilisieren.