Justizreform in der Ukraine Aktenberge, Misstrauen - aber Fortschritte
EU-Kommissionschefin von der Leyen sieht die Rechtsreform der Ukraine weit fortgeschritten - zugleich fehlen dem Land Richter, viele haben kein Grundvertrauen in die Justiz. Warum selbst eine Ministerin skeptisch ist.
Stapelweise Akten türmen sich auf den Tischen im Sitzungssaal des Bezirksgerichts Petschersk in Kiew. Dort, wo sonst Verhandlungen stattfinden, ist nun ein Archiv. Es gibt einfach zu viele unbearbeitete Verfahren am Gericht und so wird der Raum zum Ablageort. Zu viele Fälle für zu wenige Richterinnen und Richter - das Problem gibt es überall in der Ukraine. "Es gibt Gerichte, die überhaupt keine Richter haben oder nur einen", sagt Rechtsexperte Wolodomyr Tschaban. "Dieses Problem betrifft hauptsächlich die lokale Ebene, die erste Instanz, aber wir haben auf allen Ebenen eine Unterbesetzung."
Laut offiziellen Statistiken sind 2.000 der insgesamt 7.000 Richterstellen unbesetzt. Die für die Einstellung zuständige Hohe Qualifikationskommission war über Jahre eingefroren und so wurden frei gewordene Richterstellen nicht nachbesetzt. "Das wirkt sich direkt auf ihre Arbeitsbelastung aus. Und das wiederum kann Auswirkungen auf die Qualität ihrer Arbeit haben", sagt Tschaban. Der Experte arbeitet für die von der EU finanzierte Organisation "Pravo-Justice". Sie berät ukrainische Rechtsbehörden bei der Justizreform.
"Viele positive Fortschritte"
Die Reform gilt als eine Bedingung für die Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen. Insgesamt sieben Empfehlungen hatte Brüssel im Sommer 2022 der ukrainischen Regierung übergeben. Zwei Punkte richten sich an die Justiz. Eine Forderung darin lautet, dass die für die Richterbesetzung zuständige Hohe Qualifikationskommission wieder funktionsfähig werden muss. Das und anderes habe Kiew formal erfüllt, sagt Tschaban. "Die Ukraine hat in der Tat viele positive Fortschritte gemacht."
Auch eine weitere Forderung der EU-Kommission sei umgesetzt worden: Eine neu geschaffene Expertengruppe, zur Hälfte jeweils besetzt mit ukrainischen und ausländischen Mitgliedern, soll bei der Vorauswahl von Kandidaten für das Verfassungsgericht beteiligt sein. Die Expertinnen und Experten sollen prüfen, inwieweit Kandidaten für das Amt des Verfassungsrichters moralisch und fachlich geeignet sind. Letztendlich werden sie von einem Richterrat, dem ukrainischen Parlament und dem Präsidenten ernannt.
In einem Kiewer Gerichtssaal türmen sich die Akten - er kann nun nicht mehr für Gerichtstermine eingesetzt werden.
Von der Leyen lobt "Ergebnis harter Arbeit"
Das Gesetz, das die Besetzung des Verfassungsgerichts neu regelt, hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj im August unterzeichnet. Selenskyj sprach an diesem Tag von "einem der wichtigsten Gesetze" für den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der EU. Das Gesetz ermögliche laut dem Präsidenten eine transparente, professionelle und faire Auswahl der Richter des Verfassungsgerichts. Damit sei die Ukraine dem EU-Beitritt einen Schritt näher, sagte er damals.
Als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Wochenende Kiew besuchte, fiel auch ihr Zeugnis positiv aus. Die Ukraine erfülle die Voraussetzungen für die Aufnahme von Verhandlungen "deutlich über 90 Prozent". Von der Leyen trat gemeinsam mit Selenskyj vor ukrainischen und ausländischen Journalistinnen und Journalisten im Präsidentenpalast auf. An den ukrainischen Präsidenten gewandt sagte sie: "Sie sind in einem existenziellen Krieg und Sie sind gleichzeitig dabei, Ihr Land tiefgreifend zu reformieren." Neben einem Vorgehen gegen Geldwäsche und Oligarchen hob von der Leyen auch die Justizreform hervor. "Das ist das Ergebnis harter Arbeit."
Bestechungsfall am Obersten Gerichtshof
Auch Mychailo Schernakow, Vorsitzender der Nichtregierungsorganisation Dejure, sieht sein Land bei der Justizreform auf einem guten Weg. Die Bedingungen der EU sieht der ehemalige Richter ebenfalls formal als erfüllt an. Damit sei die Reform aber lange noch nicht am Ende, so Schernakow: "Viele Probleme mit der Integrität und Professionalität sind auf ein unzureichendes Niveau der Ausbildung zurückzuführen." Deshalb müsse auch die Ausbildung von Juristinnen und Juristen reformiert werden.
Und der Experte mahnt: "Wir müssen den Obersten Gerichtshof erneuern, weil es dort einige Skandale gab, die gezeigt haben, dass diese Institution nicht völlig unabhängig und integer ist." Im Mai hatten Ermittler einen Korruptionsfall an eben diesem Gericht aufgedeckt. Dessen Präsident Wsewolod Knjasjew soll Bestechungsgelder im Wert von drei Millionen US-Dollar entgegen genommen haben. Fotos mit vielen Bargeldbündeln machten die Runde.
Skandale wie diese erklären auch das niedrige Vertrauen von Ukrainerinnen und Ukrainern in ihre Gerichte. Laut einer aktuellen Umfrage halten nur etwa 25 Prozent ihre Gerichte für vertrauenswürdig. Selbst Olha Stefanischyna, die stellvertretende Ministerpräsidentin und Ministerin für europäische Integration sagte der ARD in einem Interview: "Ich bin zufrieden mit unserem Fortschritt, aber als Bürgerin habe ich immer noch nicht das Gefühl, dass ich dem Justizsystem voll vertrauen kann." Der Reformprozess sei bei der Justiz extrem langwierig und werde weiter andauern, so die Ministerin. Aber mit der Umsetzung der EU-Empfehlungen seien erste Grundlagen geschaffen.