Krieg gegen die Ukraine Offenbar mehr als 700 Tote in Kiews Vororten
Nach Angaben der Ukraine sind in den Gebieten rund um Kiew bislang mehr als 700 Leichen geborgen worden, Hunderte Menschen werden noch vermisst. Unterdessen setze Russland seine Offensive auf Mariupol mit Luftangriffen fort.
In Butscha und anderen Vororten der ukrainischen Hauptstadt Kiew sind nach Angaben des Innenministeriums mehr als 700 Menschen getötet worden. In den Gebieten, die von russischen Truppen besetzt gewesen waren, würden mehr als 200 weitere Menschen vermisst, teilte das Ministerium mit.
Allein in Butscha wurden laut Behörden mehr als 400 Leichen gefunden. "Wir haben 403 Tote, die bestialisch gefoltert, ermordet wurden", sagte Butschas Bürgermeister Anatolij Fedoruk. Seinen Angaben zufolge läuft derzeit die Exhumierung von Leichen eines weiteren Massengrabes mit 56 Toten. Mindestens 16 Menschen würden noch vermisst. Diese Zahl könne steigen, wenn Minensucher das Gebiet durchkämmten.
Französische Experten suchen Beweise
Der Generalstaatsanwaltschaft zufolge haben französische Experten von Gendarmerie und des medizinischen Dienstes der französischen Armee ihre Arbeit aufgenommen. "Die gesammelten Beweise werden in den nationalen Ermittlungen genutzt und ebenfalls an den Internationalen Strafgerichtshof übergeben", sagte Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa. Mit einem mobilen Labor zur DNA-Analyse sollen die Experten 15 Tage in dem Ort bleiben.
Butscha liegt etwa zwölf Kilometer vom Stadtrand Kiews entfernt. Nach dem Abzug der russischen Truppen Ende März waren auf den Straßen der Kleinstadt Dutzende teils gefesselte Leichen gefunden worden. Russland weist die Vorwürfe zu den Kriegsverbrechen kategorisch zurück, legt jedoch keine Belege zur eigenen Entlastung vor.
Laut Generalstaatsanwaltschaft werden auch Zwischenfälle im Bezirk Browary untersucht. Die Behörden erklärten, dort seien die Leichen von sechs Zivilisten mit Schusswunden in einem Keller im Dorf Schewtschenkowe gefunden worden. Es werde angenommen, dass russische Streitkräfte dafür verantwortlich seien.
Erneute Luftangriffe auf Mariupol
Unterdessen setzten die russischen Streitkräfte ihre Offensive auf die seit Wochen umkämpfte Stadt Mariupol fort. In der Nacht gab es nach Angaben Kiews erneute Luftangriffe. Wie das ukrainische Militär mitteilte, griffen russische Truppen auch den Hafen der Stadt und das Stahlwerk Asowstal an. In dem ausgedehnten Industriekomplex haben sich ukrainische Soldaten verschanzt.
In Mariupol harren trotz der Zerstörung vieler Häuser immer noch Zivilisten aus, wie Vizebürgermeister Serhij Orlow den tagesthemen am Dienstag sagte. Die Menschen hielten sich in Kellern und Schutzräumen auf, um dem Beschuss zu entgehen. "Das ist kein Leben. Das ist Überleben", sagte Orlow. Die ukrainische Verwaltung des Gebiets Donezk, zu dem Mariupol gehört, teilte am Dienstag mit, nach Schätzungen seien dort mehr als 20.000 Menschen getötet worden. Auch diese Zahl ist nicht überprüfbar.
Weiß schraffiert: Vormarsch der russischen Armee. Grün schraffiert: von Russland unterstützte Separatistengebiete. Krim: von Russland annektiert.
Auch die Großstadt Charkiw im Osten des Landes sei von russischer Artillerie beschossen worden, hieß es. Die Angaben zum Kampfgeschehen waren nicht unabhängig überprüfbar. Der ukrainische Morgenbericht deutete aber darauf hin, dass sich die militärische Lage nicht stark verändert hat. Für die kommenden Tage oder Wochen wird eine großangelegte russische Offensive im Osten der Ukraine erwartet.
Selenskyj schlägt Gefangenenaustausch vor
Indes bot der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj einen Austausch des festgenommenen prorussischen Politikers Viktor Medwedtschuk gegen Ukrainer in russischer Kriegsgefangenschaft an. "Ich schlage der Russischen Föderation vor, ihren Jungen gegen unsere Jungen und Mädchen in russischer Gefangenschaft auszutauschen", so Selenskyj.
Der Politiker und Oligarch Medwedtschuk gilt als engster Verbündeter von Kreml-Chef Wladimir Putin in der Ukraine. Ihm werden in Kiew Hochverrat und Unterschlagung vorgeworfen. Er hatte sich kurz vor Ausbruch des Krieges im Februar aus seinem Hausarrest abgesetzt. Am Dienstag wurde Medwedtschuk vom ukrainischen Geheimdienst SBU festgenommen.
Ukraine: 20.000 tote russische Soldaten
In einer nächtlichen Videoansprache reagierte Selenskyj auf Äußerungen von Putin, der Krieg verlaufe nach Plan. "Ganz ehrlich, niemand in der Welt versteht, wie ein solcher Plan aufgestellt werden konnte", sagte Selenskyj. Was tauge ein Plan, der den Tod Zehntausender eigener Soldaten vorsehe, fragte der Staatschef. Dabei sei klar, dass in Moskau die Zahl der getöteten Ukrainer ohnehin nicht interessiere.
Selenskyj zitierte ukrainische Zahlen, wonach bereits 20.000 russische Soldaten getötet worden seien. Westliche Schätzungen gehen von mehreren Tausend Toten aus. Der Kreml selbst spricht nur von schweren Verlusten. Putin gebe vor, alles für die Menschen und für den Donbass zu tun, sagte Selenskyj. Dabei habe das ostukrainische Kohle- und Stahlrevier selbst im Zweiten Weltkrieg nicht so schnell so heftige Gewalt erlitten wie nun von den russischen Truppen. Mit Blick auf die Belagerung von Mariupol sagte Selenskjy, die russischen Streitkräfte wiederholten die Blockade von Leningrad.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.