Krieg gegen die Ukraine Russland räumt "bedeutende Verluste" ein
Während sich die russische Armee neu sortiert, versucht die Ostukraine sich auf den erwarteten Militärschlag vorzubereiten. Unterdessen räumt der Kreml große Verluste ein - und spricht von einer "gewaltigen Tragödie".
Russland beklagt nach eigenen Angaben zahlreiche Tote bei seinem vor sechs Wochen begonnenen Angriffskrieg in der Ukraine. "Wir haben bedeutende Verluste, das ist eine gewaltige Tragödie für uns", sagte der Sprecher von Präsident Wladimir Putin, Dmitri Peskow, dem britischen Sender Sky News. Zahlen nannte er nicht. Zuletzt hatte Russland von 1351 getöteten Soldaten gesprochen. Die Ukraine geht von mehr als zehn Mal so vielen russischen Soldaten aus, die getötet wurden.
Zudem sagte der Kreml-Sprecher, die russischen Truppen seien aus den ukrainischen Gebieten Kiew und Tschernihiw zurückgezogen worden, um "guten Willen" während der Verhandlungen zu zeigen. Mit Blick auf Mariupol sagte Peskow, die umkämpfte Hafenstadt sei Teil der von Moskau anerkannten "Volksrepubliken". Mariupol werde "von nationalistischen Bataillonen befreit werden, hoffentlich früher als später", so Peskow.
Mutmaßlich von Russen begangene Kriegsverbrechen, etwa den Angriff auf eine Geburtsklinik in Mariupol und die Gräueltaten im Kiewer Vorort Butscha, nannte er "Fake". Trotz Satellitenaufnahmen und Berichten zahlreicher Augenzeugen besteht Russland darauf, mit der Ermordung Hunderter Menschen in Butscha nichts zu tun zu haben.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Amnesty: Butscha wohl "nur die Spitze des Eisbergs"
Hingegen berichtete die Menschenrechtsorganisation Amnesty International heute unter Verweis auf ukrainische Augenzeugen von neuen Hinweisen auf russische Kriegsverbrechen in der Ukraine. Russische Truppen hätten ihren Informationen zufolge wiederholt unbewaffnete Menschen in deren Häusern oder auf offener Straße erschossen, teilte die Organisation mit. In einem Fall sei eine Frau mehrfach vergewaltigt worden, nachdem ihr Mann getötet worden sei.
"Die schockierenden Bilder aus Butscha sind ganz offensichtlich nur die Spitze eines Eisbergs der Grausamkeit und Brutalität", sagte Janine Uhlmannsiek, Expertin für Europa und Zentralasien bei Amnesty International in Deutschland. "Alle Belege sprechen dafür, dass wir es hier mit Kriegsverbrechen zu tun haben."
Russische Truppen sammeln sich
Unterdessen bereitet Russland den nächsten Militärschlag vor. In einem 400 Kilometer langen Viertelkreis fahren die um Kiew abgezogenen russischen Landstreitkräfte über eigenes Gebiet zum Ausgangspunkt eines möglichen weiteren Angriffs. Die NATO erwartet von dort eine baldige Großoffensive mit teils neu ausgerüsteten russischen Soldaten auf die Ostukraine. Russland hatte sich zuletzt aus dem Raum Kiew zurückgezogen und angekündigt, sich auf den Osten und Süden des Landes konzentrieren zu wollen
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba warnte, die Schlacht um den Donbass werde an den Zweiten Weltkrieg erinnern. Entweder der Westen helfe der Ukraine in den kommenden Tagen, oder es werde zu spät sein, sagte er nach Beratungen mit den NATO-Außenministern in Brüssel. "Ich habe keine Zweifel daran, dass die Ukraine alle für den Kampf notwendigen Waffen haben wird. Die Frage ist nur der Zeitplan."
Der Vorsitzende des US-Generalstabs, General Mark Milley, sagte vor dem Kongress in Washington, die ukrainischen Streitkräfte hätten zwar erfolgreich den russischen Angriff auf Kiew abgewehrt. Ihnen stehe jedoch im Südosten des Landes noch eine größere Schlacht bevor. "Wie das ausgeht, ist im Moment offen, glaube ich."
Truppenverlegungen in den Osten
Von Russland verlegte Truppen sind nach ukrainischen Angaben zum Teil bereits in der Ostukraine um die eroberte Stadt Isjum im Charkiwer Gebiet konzentriert worden. Ziel sei dabei der Vorstoß in Richtung der Stadt Slowjansk im Donezker Gebiet. Im benachbarten Luhansker Gebiet werden ähnliche Verstärkungen der russischen Einheiten beobachtet. Die russischen Truppen verstärken dabei den Beschuss der unter ukrainischer Kontrolle verbliebenen Städte Sjewjerodonezk, Rubischne und Lyssytschansk.
Die Armee setzt auch ihre Angriffe auf die Nachschublinien für ukrainische Einheiten in der Ostukraine fort. So wurde der Eisenbahnknotenpunkt Losowa im Gebiet Charkiw mit Raketen angegriffen, Gleise wurden zerstört.
Gouverneur rechnet mit baldiger Offensive
Der Gouverneur des Gebiets Luhansk, Serhij Hajdaj, erwartet den Start der russischen Offensive bereits zum Wochenende. Er drängte die verbliebenen Zivilisten im Osten des Landes, sich unverzüglich mit noch bereitstehenden Bussen und Zügen ins Landesinnere in Sicherheit zu bringen. "Ich denke, dass sie das Heranbringen aller Reserven bereits planen abzuschließen und dass sie in drei bis vier Tagen versuchen, eine Offensive durchzuführen", hatte er gestern erklärt.
Im ganzen Gebiet gebe es keine funktionierenden Krankenhäuser mehr, schrieb Hajdaj heute auf Facebook. "Seit Beginn des Krieges zwischen Russland und der Ukraine wurde jede medizinische Einrichtung in unserer Region beschossen." Die russischen Truppen würden das Gebiet vorsätzlich aller Gesundheitseinrichtungen berauben, "damit die Verwundeten keine Chance haben, zu überleben".
Auch der Bürgermeister von Dnipro rief Frauen, Kinder und Ältere dazu auf, die zentralöstliche Großstadt zu verlassen, da mit einer Verschärfung der Kämpfe zu rechnen sei. "Die Lage im Donbass heizt sich nach und nach auf und der April wird wohl recht intensiv", sagte Borys Filatow in einer Online-Videoansprache.
Kiew: Russland will die ganze Ukraine erobern
Auch nach dem russischen Abzug aus der Gegend um Kiew glaubt das ukrainische Militär jedoch, dass Russland eine Eroberung der Hauptstadt noch nicht endgültig aufgegeben hat. "Der Feind hat die Richtung geändert und wird versuchen, in naher Zukunft die Kontrolle über die Gebiete Donezk und Luhansk zu übernehmen", sagte der Vizestabschef des Heeres, Olexander Hrusewytsch. "Danach müssen wir mit einem weiteren Angriff auf die Hauptstadt rechnen." Derzeit gebe es im Gebiet Kiew "eine kleine Pause". Diese werde genutzt, um Personal auszubilden und die Verteidigung auszubauen.
Auch nach Einschätzung der Regierung in Kiew ist das langfristige Ziel Russlands eine Eroberung der gesamten Ukraine. Das sei das Vorhaben, auch wenn sich Russland kurzfristig auf die Kämpfe in der Ost-Ukraine konzentriere, sagte die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maljar. Die russischen Streitkräfte würden in der Ukraine abwarten, während die Führung in Moskau ihre Geheimdiensteinsätze verstärke, um herauszufinden, wie man die ukrainischen Truppen am besten bekämpfe.