Krieg in der Ukraine Separatisten haben Mariupol im Visier
Russische Separatisten wollen Mariupol einkesseln und rufen die Bevölkerung auf, die Stadt zu verlassen. Unterdessen stehen offenbar russische Militärfahrzeuge kilometerlang vor Kiew, während im Zentrum Charkiws eine Rakete einschlug.
Das ukrainische Militär hat nach Darstellung Russlands keinen direkten Zugang mehr zum Asowschen Meer. Dies teilte das Verteidigungsministerium in Moskau laut der Nachrichtenagentur Tass mit. Damit hätte Russland eine Landverbindung zwischen seinem Kernland und der 2014 von der Ukraine annektierten Halbinsel Krim geschaffen. Aus der Hafenstadt Mariupol an der Küste im Osten war zuvor heftiger Beschuss gemeldet worden.
Am Montag hatten russische Streitkräfte die Hafenstadt Berdjansk eingenommen, die etwa in der Mitte des ukrainischen Küstenstreifens liegt. Die Nachrichtenagentur RIA meldete ergänzend, die pro-russischen Separatisten in der Provinz Donezk in der Ost-Ukraine hätten die Reihen zu den russischen Streitkräften in dem Gebiet geschlossen.
Die pro-russischen Separatisten im Osten der Ukraine wollen nach eigenen Angaben noch heute die Hafenstadt Mariupol einkesseln. "Die Aufgabe für heute ist es, Mariupol einzukreisen", zitierte die Nachrichtenagentur RIA den Anführer der Separatisten in Donezk, Denis Puschilin. Der Sprecher der Aufständischen, Eduard Bassurin, rief die Bevölkerung zum Verlassen der Stadt auf. Hierfür wolle man nach eigenen Angaben zwei "humanitäre Korridore" errichten.
Die Menschen könnten bis Mittwoch die umkämpfte Stadt verlassen: "Wir garantieren die Sicherheit auf Abschnitten der Fernstraße E58 sowohl in Richtung der Region Saporischschja als auch in Richtung des Territoriums der Russischen Föderation", so Bassurin weiter. Russische Truppen sollten dabei helfen. "Die nächste Phase wird die schwierigste sein - die Nationalisten zu zwingen, die Waffen niederzulegen, damit die lokale Bevölkerung nicht leidet", sagte der Sprecher der Separatisten und griff dabei das russische Narrativ auf, das von der "Entnazifizierung" der Ukraine spricht.
Unterdessen ist in der Stadt nach Angaben des Gouverneurs der Region Donezk, Pawlo Kirilenko, nach einer russischen Offensive die Stromversorgung ausgefallen. Mariupol und Wolnowacha stünden "unter dem Druck des Feindes, aber sie halten stand", erklärte er auf Facebook. Das rund 20.000 Einwohner zählende Wolnowacha sei jedoch weitgehend "zerstört". Die russische Armee rückt derzeit von zwei Seiten entlang der Küste am Asowschen Meer vor - von der annektierten Halbinsel Krim und von der russischen Grenze aus. Die Einnahme von Mariupol, einer strategisch wichtigen Hafenstadt mit einer halben Million Einwohnern, und Wolnowacha würde einen Zusammenschluss der russischen Truppen erleichtern.
Raketeneinschlag im Zentrum Charkiws
Das russische Militär verstärkt nach ukrainischen Angaben seine Angriffe auf weitere Städte im Land. So gab es in der zweitgrößten Stadt, Charkiw, am Morgen eine schwere Explosion. Das Außenministerium veröffentlichte bei Twitter ein Video, das einen Raketeneinschlag direkt auf dem zentralen Freiheitsplatz zeigt. Zu sehen ist eine gewaltige Explosion vor dem Verwaltungsgebäude, nachdem dort kurz vor dem Einschlag noch Autos vorbeifuhren. "Der Feind hat heute niederträchtig das Stadtzentrum und die Wohnviertel beschossen. Mit Mehrfachraketenwerfern und Marschflugkörpern. Der Platz vor der Stadtverwaltung wurde getroffen. Es bleibt denen nichts übrig, nur solche erbärmlichen Angriffe", sagte der Charkiwer Verwaltungsleiter Oleg Sinegubow.
Wie das Innenministerium erklärte, wurden mindestens zehn Menschen getötet und 35 verletzt. Präsident Wolodymyr Selenskyj nannte den Angriff "Staatsterrorismus". In einem Video erklärte er, die Angriffe auf ukrainische Städte müssten von einem internationalen Kriegsverbrechertribunal untersucht werden. "Niemandem wird vergeben. Niemand wird vergessen", sagte der Präsident.
Das ukrainische Außenministerium warf nach dem Raketenschlag Russland vor, internationales Recht zu brechen, Zivilisten zu töten und zivile Infrastruktur zu zerstören. Einem Berater Selenskyjs zufolge nimmt Russland bewusst Wohngebiete und Innenstädte unter Beschuss. "Russlands Ziel ist klar - Massenpanik, zivile Opfer und zerstörte Infrastruktur", sagte Mychailo Podoljak.
Das streitet Russland vehement ab. Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu warf der Ukraine laut der Agentur Interfax seinerseits vor, Zivilisten als Schutzschilder zu benutzen. Er bekräftigte, Russland sei entschlossen, die "Spezialoperation" fortzusetzen, bis das gewünschte Ziel erreicht sei. Das Wichtigste sei, Russland "vor der militärischen Bedrohung durch westliche Länder zu schützen, die versuchen, das ukrainische Volk im Kampf gegen unser Land einzusetzen", sagte Schoigu. Seinen Angaben nach, "okkupiert die russische Seite kein ukrainisches Territorium und unternimmt alles für die Sicherheit der Zivilbevölkerung".
Militärkolonne vor Kiew
Unterdessen wächst die Befürchtung, dass die russischen Angriffe auf die Hauptstadt Kiew vor einer neuen Eskalation stehen. Am Montag aufgenommene Satellitenbilder zeigten einen 60 Kilometer langen russischen Militärkonvoi nordwestlich der Hauptstadt.
Ein Satellitenbild des US-Firma Maxar
Der Konvoi erstrecke sich "von der Umgebung des Antonow-Flughafens (etwa 25 Kilometer vom Zentrum Kiews entfernt) im Süden bis zur Umgebung von Prybirsk" im Norden, teilte das US-Satellitenbildunternehmen Maxar mit. Die Bilder zeigen Dutzende Fahrzeuge, die auf Straßen in der ukrainischen Landschaft hintereinander aufgereiht sind.
Angesichts der unsicheren Lage setzte Präsident Selenskyj für die Hauptstadt einen Militärkommandanten ein. "Vitali Klitschko bleibt Bürgermeister von Kiew, er wird seinen Verantwortungsbereich haben", sagte das Staatsoberhaupt in einer Videobotschaft. Der 55-jährige General Mykola Schyrnow habe bereits seit 2014 Verteidigungsmaßnahmen organisiert. Nach dem Krieg werde alles wieder rückgängig gemacht.
Kommt eine "Taktik der Zerstörung"?
Bislang ist es den russischen Streitkräften nicht gelungen, trotz vermeintlich militärischer Übermacht eine der großen Städte unter ihre Kontrolle zu bekommen. Ukrainische Streitkräfte und die Zivilgesellschaft stemmen sich vehement gegen die Invasion. Dies schürt zunehmend Ängste, dass die russischen Kommandeure eine Taktik der Zerstörung anwenden könnten.
"Der Schleier ist gefallen", sagte Podoljak. "Russland bombardiert aktiv die Stadtzentren, feuert gezielt Raketen und Artillerie auf Wohngebiete und Behörden ab." Das russische Militär hatte eine ähnliche Taktik bereits in Syrien und Tschetschenien eingeschlagen, wo die Städte Aleppo und Grosny in Schutt und Asche gelegt wurden.
Unklare Angaben zu Opfern
Nach Angaben des Regionsverwalters wurden auf einem Militärstützpunkt in Ochtyrka, zwischen Charkiw und Kiew, mehr als 70 ukrainische Soldaten durch russisches Geschützfeuer getötet. Auf Telegram verbreitete Dmytro Schywyzkyj Bilder eines ausgebrannte vierstöckigen Gebäudes, in dem Retter im Einsatz waren. Später schrieb er auf Facebook, bei Kämpfen am Sonntag seien viele russische Soldaten und Einwohner getötet worden. Auch für diese Angaben gibt es keine unabhängige Bestätigung.
Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden seit Beginn der russischen Invasion insgesamt 136 Zivilisten getötet und 400 verletzt - die tatsächlichen Zahlen seien aber vermutlich "erheblich" höher. Die ukrainische Regierung berichtete indessen von 352 getöteten Zivilisten und 2040 Verletzten und erklärte, dass Tausende russische Soldaten ums Leben gekommen seien. Die russische Regierung legte keine Zahlen vor.
In vielen Orten und Städten spitzt sich offenbar die humanitäre Lage zu. Auf Bildern waren am Montag lange Schlangen vor Lebensmittelgeschäften etwa in Kiew zu sehen. Präsident Selenskij kündigte am Abend an, an der Wiederherstellung der unterbrochenen Versorgungsketten zu arbeiten.