Interview

Osteuropa-Experte zur Zukunft der Ukraine "Sie muss zu retten sein"

Stand: 16.04.2014 18:16 Uhr

Die Soldaten, die zu den pro-russischen Separatisten überlaufen, sind nur in der Minderheit, meint Osteuropa-Experte Ewald Böhlke. Die große Mehrheit der Bevölkerung wolle die Souveränität der Ukraine, erklärt er im Interview mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Die Lage in der Ukraine ist sehr unübersichtlich: Ukrainische Streitkräfte werden in den Osten des Landes entsandt, Russlands Präsident Putin warnt vor einem Bürgerkrieg - ist die Ukraine überhaupt noch zu retten?

Ewald Böhlke: Sie muss zu retten sein. Wenn sie nicht zu retten ist, verändert das die europäische Landkarte radikal und das wäre die Katastrophe - auch für uns.

tagesschau.de: Welche Lösungswege gibt es denn überhaupt noch, um den Konflikt zu befrieden?

Böhlke: Es wurden auf vielen Seiten Fehler gemacht. Deren Bewertung muss man Historikern überlassen. Der entscheidende Punkt ist die Entwaffnung der Paramilitärs auf allen Seiten. Der Staat Ukraine muss wieder das Machtmonopol gewinnen.

Zur Person

Ewald Böhlke leitet seit Januar 2013 das Berthold-Beitz-Zentrum für Russland, Ukraine, Belarus und Zentralasien der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt auf der Regionalforschung zu Osteuropa.

tagesschau.de: Wie schlagkräftig ist die ukrainische Armee?

Böhlke: Die ukrainische Armee ist 20 Jahre lang durch die ukrainischen Oligarchen und Angehörige des ukrainischen Staatsdienstes geplündert worden. Sie ist dementsprechend in einem fürchterlichen Zustand und völlig demoralisiert. Dem steht die kraftstrotzende russische Armee gegenüber. Das ist das Problem.

tagesschau.de: Es häufen sich derzeit Berichte, nach denen örtliche ukrainische Sicherheitskräfte die Seiten wechseln. Auf wen stützt sich Kiews Macht in der Region noch?

Böhlke: Grundsätzlich haben wir diese Überläufer in Umbruchsituationen immer - dann sortieren sich die Leute neu. Die Ukraine teilt sich in drei Gruppen. Die erste vertritt in der Westukraine einen Nationalismus. Die russischsprachige Gruppe wünscht eine Angliederung an Russland. Aber die große Mehrheit will die Souveränität der Ukraine.

tagesschau.de: Inwieweit repräsentieren die pro-russischen Separatisten die ukrainische Landbevölkerung?

Böhlke: Die Separatisten hoffen natürlich, dass diese Meldungen von Überläufern ihre Akzeptanz in der Ostukraine erhöhen. Bei uns darf aber nicht das falsche Bild entstehen, dass nur weil einige hundert Offiziere oder Polizisten zu den Separatisten überlaufen, die ganze Ostukraine Richtung Russland marschiert. Im Augenblick können wir wohl sagen, die Mehrheit der Bevölkerung der Ostukraine, egal ob ukrainisch oder russisch, will im ukrainischen Staat bleiben. Das Wichtigste ist: Sie wollen ein Leben in Frieden haben - das heißt, sie wollen keine Eskalation. Und hier liegt die größte Gefahr in der Ukraine: Können die Separatisten diese Mehrheitsmeinung beeinflussen?

tagesschau.de: Welche Rolle spielt dabei überhaupt noch die ukrainische Regierung? Hat sie noch Macht und Einflussmöglichkeiten?

Böhlke: Ich plädiere für Runde Tische. Die Regierung muss es schaffen, der Mehrheit in der Bevölkerung eine Stimme zu geben. Die jetzigen Regierungsmitglieder müssen sich endlich mit der Bevölkerung vor Ort unterhalten, also auch mit denen, die verunsichert sind. Das passiert momentan nicht. Zudem haben wir Politiker, wie Julia Timoschenko, die immer noch Wahlkampf dort in der Region betreiben. Timoschenko verstrickt sich in internationale Politik - für die Einheit der Ukraine tut sie wenig. Hier stimmt die Machtlogik in Kiew nicht mehr. Die provisorische Regierung stößt wahrscheinlich an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit.

tagesschau.de: Wie bewerten Sie das Zugeständnis des ukrainischen Präsidenten Turtschinow, ein Referendum durchzuführen?

Böhlke: Ein Referendum böte endlich mal die Möglichkeit, die Menschen zu Wort kommen zu lassen. Bislang finden nur Äußerungen von Paramilitärs und extremistischen Politikern Gehör. Die Menschen und ihre Willensbildung werden in diesem immer stärker militanten Konflikt ins Abseits gedrängt. Das sehe ich mit Sorge.

tagesschau.de: Wie könnte ein Referendum aussehen? Über was genau könnte abgestimmt werden?

Böhlke: Es ginge um die Frage: Wollen wir den ukrainischen Staat gemeinsam aufbauen und wie können wir das tun? Ansonsten wird der Separatismus voranschreiten und es werden immer weitere Teile der Ukraine autonom oder an Russland angegliedert.

tagesschau.de: Wäre ein föderaler Staat eine sinnvolle Lösung?

Böhlke: Föderalismus ist grundsätzlich gut, aber er kann nur funktionieren, wenn es relativ stabile Verhältnisse gibt. In dieser extremen Situation in der Ukraine ist jeder Föderalismus-Gedanke im Hinterkopf auch verbunden mit dem Gedanken, sich dann komplett abspalten zu können. Das ist das Problem. Die Föderalismus-Debatte muss zu einem richtigen Zeitpunkt kommen. Nämlich dann, wenn die Verfassung geändert wird und per Referendum über föderale Reformen abgestimmt wird. Unter den Bedingungen des Zerfalls ist die Föderalismus-Debatte enorm kontraproduktiv.

tagesschau.de: Vor dem Treffen der Außenminister in Genf: Welche Rolle sollte Ihrer Meinung nach die EU bei der Suche nach einer friedlichen Lösung einnehmen?

Böhlke: Russland pflegt derzeit seine alte Reichsidee und löst alle Kooperationen der vergangenen 20 Jahre auf. Die Amerikaner hingegen wollen die Ukraine verteidigen. Da stehen sich zwei Verhandlungspartner gegenüber, die im Kern bereit sind, notwendigerweise auch in einen harten Kampf miteinander zu gehen. Die Ukraine geht mit dem Partner USA. Wenn das Modell der harten nationalstaatlichen Machtmittel treibend in diesem Konflikt wird, dann kann es die EU zerreißen. Denn die EU hat als Grundmodell kooperative Instrumente - das heißt, sie sucht bei Konflikten zwischen Staaten immer den Kompromiss. Das ist bislang auch ihre Erfolgsgeschichte. Die EU ist auf diese harte Auseinandersetzung in der barbarischen Logik des 19. Jahrhunderts überhaupt nicht vorbereitet. Militärische Etats wurden gekürzt, die europäische Armee existiert nur in Gedanken. Deshalb ist es auch so wichtig, die Schärfe der Eskalation herauszunehmen.

tagesschau.de: Putin warnt vor einem "Bürgerkrieg". Was erwarten Sie, wie entwickelt sich die Situation?

Böhlke: Es ist eine hochgefährliche Situation, in der wir uns befinden. Jede kleine Eskalation kann einen Flächenbrand entfachen. Dafür braucht es keinen russischen Präsidenten - vor einem Bürgerkrieg warnen auch wir Analysten.

Die zentrale Frage in Zukunft wird sein: Ist die Mehrheit der Bevölkerung in der Ostukraine weiterhin daran interessiert, in Frieden in einem ukrainischen Staat zu leben oder fühlt sie sich so unsicher, dass sie Schutz sucht. Das wäre dann die Chance für Russland.

Das Interview führte Judith Pape, tagesschau.de