US-Wahl 2020 "USA sind in der Mitte zerrissen"
Die Richter am Supreme Court seien keine "willfährigen Marionetten", meint US-Experte Kaim. Dennoch nutze Trump die Polarisierung der US-Wähler geschickt aus - ein Konflikt, den auch ein Amtsnachfolger erben werde.
tagesschau.de: Herr Kaim, die Stimmen sind noch nicht alle ausgezählt und dennoch erklärt sich Donald Trump zum Sieger der US-Präsidentschaftswahl. Normalerweise passiert so etwas in Diktaturen. Warum macht er das?
Markus Kaim: Er setzt seine Politik der letzten Wochen und Monate fort, den Wahlvorgang systematisch zu delegitimieren. In seiner Antwort auf die Frage, ob er die Wahl und das Wahlergebnis akzeptieren werde, sagte er, nur wenn er selber gewinnen würde. Ziel seines Wahlkampfs war es nicht nur, zu gewinnen, sondern den Wahlvorgang selbst in Frage zu stellen.
tagesschau.de: Ist das noch demokratisch?
Kaim: Ich mache mir solange keine Sorgen, wie es noch kontrollierende Institutionen gibt. Trump hat ja selber angekündigt, er wolle den Weg vor die Richter antreten, um die weitere Auszählung der Stimmen zu stoppen. Wie das genau ablaufen soll, bleibt sein Geheimnis.
Das Wahlrecht ist keine Bundeskompetenz, sondern die Kompetenz der Bundesstaaten. Aber ich würde davor warnen zu glauben, dass der Supreme Court, den er heute angesprochen hat, sich seinem Willen so einfach beugen würde.
"Richter sind keine Marionetten"
tagesschau.de: Er hat das Oberste Gericht, den Supreme Court, in den vergangenen Jahren mit konservativen Richtern besetzt. Aber Sie glauben an die Unabhängigkeit der Richter?
Kaim: Ich warne vor der Lesart, dass die von Trump ernannten Richter willfährige Marionetten sind. Das kann man nicht belegen. Die Idee dahinter ist, dass Richter, die von einem Präsidenten ernannt wurden, zu Marionetten werden. Aber da gibt's viele Gegenbeispiele, die zeigen, dass Richter viel autonomer sind, als man gemeinhin glaubt.
Etliche Urteile, die der Supreme Court gerade in den letzten Tagen in Sachen Wahlrecht und Wahlverfahren gefällt hat, richteten sich gegen den erklärten Willen des Präsidenten. Das ist ein erstes Indiz gegen die Gleichung: Von Präsident Trump ernannt bedeutet Urteile sprechen im Sinne von Trump. Diese Gleichung stimmt so nicht.
Biden "erbt Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft"
tagesschau.de: Momentan hat der Demokrat Joe Biden bei der Zahl der Wahlleute die Nase noch knapp vorn.
Kaim: Wenn Biden gewinnt, erbt er die Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft. Sie wäre der Ausgangspunkt seiner Präsidentschaft. Das Wahlergebnis zeigt deutlich, die USA sind in der Mitte zerrissen. Das ist eine große Bürde für eine neue Präsidentschaft. Trotz seines guten Willens, seiner ausgleichenden Persönlichkeit und seiner Absicht, Brücken zu bauen ist das ein Eckpunkt für sein politisches Handeln, den er in Rechnung stellen muss.
Erhöhung des Mindestlohns, Reform der Gesundheitsvorsorge, Anpassung der US-Volkswirtschaft an den Klimawandel, Zugang zu kostenloser Bildung und vieles mehr - hier würde ein Präsident Biden auf erbitterten Widerstand in der Gesellschaft stoßen. Das bleibt eine Konstante, die nicht mit Trump begonnen hat, die mit ihm aber leider auch nicht weggehen würde.
tagesschau.de: Donald Trump hat vor der Wahl mit seiner Rethorik immer wieder radikale Milizen angesprochen. Könnte es je nach Wahlausgang zu offener Gewalt kommen?
Kaim: Was in den nächsten Tagen passieren wird, kann ich nicht prognostizieren. Die Polarisierung der Gesellschaft ist da und zeigt sich auch im Wahlergebnis. Sie wird noch viel schlimmer, wenn es keine Institutionen gibt, die diese Unterschiede ausgleichen können - zum Beispiel Gerichte.
Ganz schlimm wird's, wenn diese Polarisierung instrumentalisiert wird. Polarisierung ist Teil von Trumps Herrschaftssystem: Einzelne Bevölkerungsgruppen werden gegeneinander ausgespielt und aufgehetzt. Gerade in der Corona-Krise hätte es eines Präsidenten bedurft, der ausgleicht und das Land zusammenführt. Er ist ein Präsident, der Gräben vertieft.
Wirkung der Pandemie auf Wahl überschätzt
tagesschau.de: Trump wird möglicherweise wiedergewählt - trotz 232.000 Corona-Toten in den USA, trotz einer gigantischen Staatsverschuldung. Beides hat viel mit seiner Politik zu tun.
Kaim: Wir haben offensichtlich die Wirkung der Pandemie auf das Ansehen des Präsidenten überschätzt. Wir haben gedacht, das Kalkül der Demokraten würde dahingehend aufgehen, die Wahl zu einem Referendum über den Präsidenten zu machen dessen größter Makel das Corona-Krisenmanagement hat. So irrational das auch ist, aber viele US-Amerikaner empfinden das offenbar nicht als Belastung.
Es gibt viele, die von einer vergleichsweise guten wirtschaftlichen Performance profitiert haben. Im Februar hatten wir eine rekordniedrige Arbeitslosigkeit, rekordhohe Aktienmärkte, was für viele wegen deren Altervorsorge wichtig ist, und zu dieser Zeit hätte Trump wahrscheinlich einen klaren Sieg bei der Wahl eingefahren. Der Effekt der Pandemie war bei vielen Wählern nicht so katastrophal, wie wir das hier in Europa eingeschätzt haben.
tagesschau.de: Nochmal: Die unter Trump immens angewachsene Staatsverschuldung stört niemanden so richtig?
Kaim: Solange der Dollar die internationale Leitwährung ist und sich die USA zu jedem Zeitpunkt und Preis Geld besorgen können, macht sich darüber offensichtlich niemand größere Gedanken.
Kosten-Nutzen-Abwägung evangelikaler Gruppen
tagesschau.de: Gewählt wird Trump sehr stark von gläubigen Christen. Die von der "Washington Post" gezählten gut 20.000 Lügen, die Trump während seiner Präsidentschaft in die Welt gesetzt hat, scheinen sie nicht zu stören.
Kaim: Wenn man sie fragen würde, würden viele sagen, ja, natürlich ist das peinlich. Sein Ungang mit Frauen ist peinlich, dass er zum dritten Mal verheiratet ist, ist auch auch peinlich. Aber er liefert das, was sie immer wollten: Die Mehrheit am Obersten Gericht und damit möglicherweise schon bald die Änderung des Abtreibungsrechts von 1973.
Sie hoffen darauf, dass durch Urteile des Supreme Court die amerikanische Gesellschaft auf den "rechten Weg" zurückgeführt wird. Das ist eine Kosten-Nutzen-Abwägung von evangelikalen Gruppen. Vielen jüngeren Evangelikalen ist das mittlerweile unangenehm und sie distanzieren sich davon.
tagesschau.de: Was würde eine zweite Amtszeit für Deutschland und Europa bedeuten?
Kaim: Es gab Präsidenten, die sich in ihrer zweiten Amtszeit gemäßigt haben. Ronald Reagan und George W. Bush sind dafür Beispiele. Bei Trump sehe ich nichts, was dafür spräche, dass er sich mäßigen würde. Was das für die kommenden vier Jahre hieße, ist schwer abzuschätzen. Er könnte wieder auf die Idee kommen, die USA aus der NATO zu führen.
Trump ist so impulsiv, dass niemand prognostizieren kann, welche Ideen ihm morgen durch den Kopf gehen. Es entzieht sich einer halbwegs wissenschaftlichen Analyse. Aber es ist klar, dass wir nicht auf eine Renaissance der atlantischen Beziehungen setzen dürfen.
Die Parameter gegenüber Europa werden bestehen bleiben: Strafzölle auf Waren aus der EU, die EU als Feind, Abkehr vom gemeinsam entwickelten Multilateralismus, Ausstieg aus internationalen Verträgen und die Unterminierung internationaler Organisationen.
"Deutschland muss sich positionieren"
tagesschau.de: Wären wir mit Biden als Präsident besser dran?
Kaim: Vordergründig ja, weil er für deutsche und europäische Politik kompatibler ist. Multilaterismus gegenüber ist er viel aufgeschlossener und er ist auch bei internationalen Verträgen verlässlicher. Er hat bereits zwei Abkommen genannt, in die er wieder zurück will: Das Pariser Klimaabkommen und das Atomabkommen mit dem Iran.
Aber wir werden keine Renaissance des transatlantischen Büdnisses erleben, wie das zur Zeit unserer Väter war - mit einer führungswilligen Supermacht USA. Das wird's nicht mehr geben. Die Rivalität großer Mächte ist das neue Paradigma internationaler Politik geworden.
Auch eine Biden-Administration wird davon ausgehen, dass Systemkonkurrenz zwischen den USA und China die konstituierende Bruchlinie des 21. Jahrhunderts ist. Wenn das der Fall ist, kann man sagen: Toll, dass die Amerikaner wieder stärker die Allianz und das Gespräch mit uns suchen. Aber das heißt dann gegebenenfalls auch, sich klarer an der amerikanische Seite positionieren zu müssen. Ein Beispiel ist das 5G-Netz.
Die deutsche Politik laviert bei der Beteiligung des chinesischen Huawei-Konzern herum. Es könnte sein, dass die Biden-Leute sagen: "Liebe Leute, ihr möchtet eine Renaissance des Westens, aber dann steht auch auf unserer Seite." Die Handlungsspielräume Deutschlands und Europas gegenüber China könnten dadurch kleiner werden.
Das Gespräch führte Reinhard Baumgarten, SWR