US-Wahl 2024
Applebaum zu Folgen der US-Wahl "Was in den USA passiert, passiert in Europa"
Nach dem Sieg des Trump-Lagers in den USA rechnet die Historikerin Applebaum mit ähnlichen politischen Entwicklungen in Europa. Sie rät der EU dazu, die sozialen Medien zu regulieren, und hofft auf eine Führungsrolle Deutschlands.
ARD: Sie haben autoritäre Bewegungen intensiv untersucht. Was macht den aktuellen Aufstieg der Ultrakonservativen in den Vereinigten Staaten im Vergleich zu früheren politischen Bewegungen so einzigartig?
Anne Applebaum: Zunächst einmal ist es meiner Meinung nach wichtig zu begreifen, dass die sogenannte Rechtsaußenbewegung inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.
Die meisten US-Amerikaner erhalten ihre Nachrichten und Informationen nicht mehr aus Zeitungen, regulären Fernsehsendungen oder durch Journalisten. Sie beziehen ihre Nachrichten aus einer Mischung aus Social Media, Podcasts und Werbeanzeigen. Durch diese Medien wurden die entsprechenden Gedanken massentauglich gemacht. Dort werden andere Forderungen aufgestellt, als wir es früher von den Republikanern gewohnt waren. Es geht ganz klar um eine radikale Umgestaltung der Institutionen, zum Beispiel durch Massenentlassungen von Beamten.
ARD: In den USA gibt es eine Gewaltenteilung - es gibt ein Parlament und Richter. Ist es möglich, dass ein einziger Mann, also Donald Trump, und seine Regierung wirklich so weit gehen und all das umsetzen werden, was sie gerade beschrieben haben?
Applebaum: Die Republikaner haben jetzt die Mehrheit im Senat, vermutlich erlangen sie auch die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Die Mehrheit der Richter des Obersten Gerichts wurde von den Republikanern ernannt. Das heißt, die historische Gewaltenteilung gibt es teilweise nicht mehr.
Aber natürlich wird es innerhalb des Systems verschiedene Arten des Widerstands geben. Die Judikative hat noch viele weitere Ebenen.
2003 wurde ihr Buch "Gulag" über das sowjetische Lagersystem veröffentlicht. Das 2017 publizierte Buch "Roter Hunger" mit der These eines geplanten Genozids an den Ukrainern zu Sowjetzeiten führte zu einer Kontroverse auch unter Wissenschaftlern.
Applebaum hat neben der US-amerikanischen auch die polnische Staatsangehörigkeit.
Kommt die radikale Kursänderung?
ARD: Erwarten Sie in den USA eine weitere Polarisierung, Veränderungen an den demokratischen Institutionen oder gar politische Kurswechsel, die die Richtung des Landes neu definieren könnten?
Applebaum: Ich kann nur wiederholen, was während des Trump-Wahlkampfes gesagt wurde. Da haben er und seine Leute sehr deutlich gemacht, dass es eine radikale Kursänderung geben wird. Das haben wir sowohl von Trump als auch seinem Vizepräsidenten J. D. Vance gehört. Sie wollen die Beziehungen zu Europa verändern, beide haben davon gesprochen, die Funktionsweise der US-Regierung zu ändern.
Die Rede ist auch von der Zerstörung des "Deep State", womit sie, soweit ich das beurteilen kann, Aufsichts- und Regierungsbehörden meinen. Ihren Aussagen nach geht es also um eine radikal andere Regierung. Vielleicht wird sich das in der Praxis am Ende anders gestalten.
Applebaum rechnet mit Parallelen in Europa
ARD: Viele Beobachter sprechen bereits von einer globalen Krise der Demokratie. Sehen Sie Parallelen zwischen den Entwicklungen in den USA und möglichen oder tatsächlichen Entwicklungen in Europa?
Applebaum: Was in den USA passiert, passiert irgendwann in Europa. Es gibt politische Veränderungen in den USA, die sich auch in Europa wiederfinden lassen werden.
Es wird weitere politische Parteien und Bewegungen geben, die die Ideen, Sprache und Taktik der US-Rechtsaußenbewegung teilen, die die Republikanische Partei nun erobert hat und die jetzt auch das Weiße Haus kontrolliert. Das wird auch in Europa passieren. Die Europäer sollten also darauf vorbereitet sein und sich überlegen, wie sie das aufhalten können.
ARD: Welche Schritte könnten Demokratien weltweit unternehmen, um den Einfluss autoritärer und rechtsextremer Bewegungen einzudämmen?
Applebaum: Die EU muss sich jetzt ernsthaft mit der Regulierung der sozialen Medien befassen. Und damit meine ich nicht Zensur, sondern den Menschen die Kontrolle über ihre Daten zu geben und den Zugang zu Algorithmen und ihrer Funktionsweise zu ermöglichen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Art, wie Menschen ihre Informationen beziehen, mit der Demokratie vereinbar bleibt.
ARD: Welche Änderungen in Trumps Politik im Vergleich zu seiner ersten Amtszeit erwarten Sie?
Applebaum: Er hat sehr deutlich gemacht, dass die USA die Ukraine nicht wie bisher weiter unterstützen werden. Er hat klar gesagt, dass er sich nicht an der Spitze eines breiten demokratischen Bündnisses sieht.
Deutschland und Europa sollten über die Verteidigung der Ukraine sprechen. Vor allem in dem Wissen, dass eine katastrophale Entwicklung in der Ukraine sie sicher nicht günstiger zu stehen kommen wird. Es wird nicht günstiger, wenn der Krieg schlecht ausgeht, sondern teurer. Dann muss mehr in die Aufrüstung investiert werden und die NATO wird stärker bedroht sein. Es wird eine große Flüchtlingskrise geben und das macht die Lage dann nicht leichter.
"Denkbar ungünstiger Zeitpunkt für eine Regierungskrise"
ARD: Die deutsche Regierung befindet sich in einer tiefen Krise. Wie nehmen Sie die Situation wahr?
Applebaum: Es ist ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt für eine Regierungskrise in Deutschland. Ich hoffe aber, dass Bundeskanzler Olaf Scholz die nächsten Wochen dafür nutzt, weise Entscheidungen zu treffen, um Europa, die NATO und die Ukraine für alle Eventualitäten zu wappnen.
ARD: In der Vergangenheit haben Sie gesagt, dass Sie trotz düsterer Aussichten optimistisch bleiben. Was gibt Ihnen Hoffnung?
Applebaum: Ich lege sowohl große Hoffnungen in Europa als auch in die Geschlossenheit von Deutschland, Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Polen und Italien. Ich bin sehr hoffnungsvoll, dass die Europäer sich der Dringlichkeit bewusst werden und verstehen, dass es jetzt gilt, zusammenzustehen und unsere gemeinsamen Werte zu verteidigen. Ich glaube, dass es möglich ist, und ich hoffe sehr auf die Führungsrolle Deutschlands selbst in dieser schweren Zeit.
Das Gespräch führte Ellen Ehni, WDR. Es wurde für die schriftliche Fassung gekürzt und redigiert.