Neuer Europa-Kurs Beim Segeln die Besatzung mitnehmen
Eine neue und stärkere EU - darüber diskutieren europäische Politiker seit dem begeisterten Bekenntnis zu Europa von Frankreichs Präsident Macron. Das kann aber nur gelingen, wenn man wieder alle an Bord holt, sagt Europa-Politiker Günter Verheugen im tagesschau.de-Interview.
tagesschau.de: Schauen wir uns mal einen möglichen Spätsommertag im Jahr 2027 an: Die Republik Europa blickt mit Spannung nach Brüssel, wo die europäische Verteidigungsministerin und der europäische Digitalminister eine Krisensitzung einberufen haben. Die Abgeordneten beraten über einen Cyberangriff aus dem Ausland auf Europa. Was müssen europäische Politiker tun, damit diese Vision Wirklichkeit wird?
Günter Verheugen: Sie müssten erst einmal die Voraussetzungen schaffen, dass die Idee einer Republik Europa mehrheitsfähig wird. Das ist momentan überhaupt nicht der Fall und ich zweifle stark, dass das in zehn Jahren anders wäre. Ich kenne kein einziges Volk, das bereit ist, seine Eigenstaatlichkeit zugunsten eines europäischen Staates aufzugeben. Die Vorbehalte und die Kritik, die es an der EU von heute gibt, die müssen wir ernst nehmen. Und wir müssen die Dinge ändern, die offenbar in der Vergangenheit schief gelaufen sind.
tagesschau.de: Welche konkret?
Verheugen: Wenn wir die beiden wichtigen Reden der vergangenen Wochen betrachten, die Rede des Präsidenten der EU-Kommission Jean-Claude Juncker vor dem Europäischen Parlament und die des französischen Präsidenten Macron, dann fällt auf, dass in beiden Reden zwei fundamentale Dinge fehlen. Es wird erstens nicht darüber gesprochen, dass sich in der EU trotz Euro, trotz Binnenmarkt, trotz gewaltiger Finanztransfers eine immer größere Ungleichheit auftut. Die Reichen werden reicher, die Schwächeren werden mehr und mehr abgehängt.
Zweitens sprechen beide nicht über den überall in der EU vorherrschenden Eindruck, dass die Institutionen in Brüssel in ihrem Anspruch auf Machtausübung und Einfluss zu weit gegangen sind. Die Balance in der Machtverteilung stimmt nicht mehr. Deswegen steht die Bevölkerung in den einzelnen Staaten und Regionen in der EU auch weiteren Kompetenzübertragungen an "Brüssel" ablehnend gegenüber.
Proteste katalanischer Separatisten - muss Europa sich von der Idee des Nationalstaats verabschieden?
tagesschau.de: In einzelnen Regionen Europas wie jetzt in Katalonien begehrt die Bevölkerung aber auch gegen die nationale Regierung auf. Muss sich Europa am Ende nicht von nationalstaatlichen Ideen verabschieden, um zusammenwachsen zu können?
Verheugen: Ganz sicher nicht. Im Falle Kataloniens geht es nicht um das Zusammenwachsen in der EU, sondern um den Zusammenhalt Spaniens. Ich glaube überhaupt nicht, dass der europäische Nationalstaat am Ende angekommen ist. Aber ich bin sehr dafür, dass die kulturelle Diversität, die sich in der Vielzahl unserer Regionen widerspiegelt, nicht als eine Last, sondern als europäischer Reichtum betrachtet, geschützt und bewahrt wird.
Gemeinsame Verantwortung von Deutschland und Frankreich
tagesschau.de: Sie haben die Grundsatzrede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron angesprochen. Er fordert darin gemeinsame EU-Asylverfahren - wie können die in der Praxis umgesetzt werden?
Verheugen: Falls Macron an den weitestgehenden Schritt denkt, die Asylverfahren mittels einer europäischen Behörde bereits an den Außengrenzen abzuwickeln, dann muss das zwingend mit der Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU verbunden sein. Ich habe große Zweifel, ob darüber Einigkeit erzielt werden kann. Wir mögen das in Deutschland für richtig halten, aber es gibt eine Reihe von EU-Staaten, die möglicherweise eher aus der EU austreten würden, als das zu akzeptieren.
tagesschau.de: In den vergangenen Jahrzehnten hieß es immer, Deutschland und Frankreich bilden den Motor Europas. Kann dieser Motor Fahrt aufnehmen?
Verheugen: Ja. Es ist wirklich ermutigend zu sehen, dass der französische Präsident sich glühend zur Idee der europäischen Einheit bekannt hat, verbunden mit sehr weitreichenden Reformvorschlägen, und dass er an die gemeinsame Verantwortung von Deutschland und Frankreich erinnert hat. Ich wäre sehr froh, wenn wir in der Lage wären, dieses Duo um einen dritten Partner ergänzen zu können, nämlich Polen. Aber davon müssten wir Polen erst noch überzeugen, dass das seine Rolle in der EU wäre.
tagesschau.de: Inwiefern wäre Polen als dritter Partner nützlich?
Verheugen: Historisch betrachtet sind Frankreich, Deutschland und Polen drei Länder, die zentral sind für die Bewahrung des Friedens innerhalb der EU. Für mich ist die deutsch-polnische Verständigung genauso unverzichtbar wie die deutsch-französische.
tagesschau.de: Sehen Sie eine Jamaika-Koalition für den deutsch-französischen Motor eher als Öl oder als Bremsflüssigkeit?
Verheugen: Das kann man noch nicht genau vorhersagen. Kernelemente der Reform der Eurozone, die Macron vorschlägt, werden von CDU/CSU und der FDP abgelehnt. Die FDP könnte zudem in allen finanziellen Fragen eher noch bockiger sein als Schäuble.
Schiffsvolk längst desertiert
tagesschau.de: EU-Ratspräsident Donald Tusk will in zwei Wochen eine konkrete "Agenda 2017/2018" zur Reform der EU vorlegen. Dabei wolle er "Schritt für Schritt" gehen. Klingt das nicht sehr lahm?
Verheugen: Er ist realistisch. Er bezieht die aktuelle Lage mit ein. Juncker hat ja gesagt: Wir haben europapolitisch wieder Wind in den Segeln. Dann kam Macron - der Kapitän betritt die Kommandobrücke - und sagt, welcher Kurs anliegt. Dummerweise haben beide dabei übersehen, dass die Schiffsoffiziere völlig unterschiedlicher Meinung sind und dass das Schiffsvolk längst desertiert ist. Das Schiff wird so nicht segeln. Es wird zuallererst notwendig sein, eine breite öffentliche Unterstützung in allen Mitgliedsstaaten für die europäische Einigung zurückzugewinnen.
tagesschau.de: Wie sieht Ihre Vision von einem Spätsommertag 2027 aus?
Verheugen: Ich wünsche mir, dass wir in zehn Jahren in der EU einen Zustand erreicht haben, in dem alle Mitgliedsstaaten in gleicher Weise die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen meistern können, wo überall eine hohe Wettbewerbsfähigkeit herrscht und wo Arbeitslosigkeit überall gleichermaßen bekämpft sein wird. Ich wünsche mir außerdem für das Jahr 2027 eine Europäische Union, die außenpolitisch mit einer Stimme spricht und stabilisierend und mäßigend in der Weltpolitik wirken kann.
Das Interview führte Maiken Nielsen, tagesschau.de