Genozidforscher zur Kolonialgeschichte Warum "Entschuldigung" so schwierig ist
Zu Zehntausenden ermordeten deutsche "Schutztruppen" Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika. 100 Jahre nach Ende der Kolonialherrschaft fällt die Auseinandersetzung darüber weiter schwer. Warum, erklärt Genozidforscher Medardus Brehl im Interview mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Vor 100 Jahren endete die deutsche Kolonialherrschaft über das heutige Namibia. Dort wurden zwischen 1904 und 1908 Zehntausende von Herero und Nama ermordet und in Konzentrationslagern inhaftiert. Deutschland hat sich dafür nie von höchster Stelle aus offiziell entschuldigt. Warum ist eine solche Entschuldigung bislang ausgeblieben?
Medardus Brehl: Eine Entschuldigung wäre ein erster Schritt hin zu einer wirklichen Anerkennung des Völkermords. Bislang schreckt man davor zurück.
Zum einen befürchtet man dann Reparationsforderungen, die dann mit größerem Nachdruck und größeren Erfolgschancen vorgetragen werden würden. Zum anderen will man den Eindruck vermeiden, durch die Anerkennung eines weiteren Völkermords werde der an den Juden relativiert. Dieser erinnerungskulturelle Grund ist meiner Meinung nach wenig stichhaltig, schwingt aber nach wie vor mit. Außerdem ist man versucht, die Ereignisse als "nicht untypisch für den Kolonialismus" zu deskandalisieren.
tagesschau.de: Bundestagspräsident Norbert Lammert bezeichnete jetzt die Massaker als Völkermord. Was wird sich durch die von ihm gewählte Begrifflichkeit im Umgang mit diesem Teil deutscher Geschichte ändern?
Brehl: Lammert als zweithöchster Mann im Staat sendet ein wichtiges Signal an die Herero-Gemeinschaft in Namibia heute. Er stößt aber auch eine erinnerungspolitische Diskussion hierzulande an. Dadurch, dass er den Begriff "Völkermord" benutzt hat, beschneidet er die Möglichkeit, ihn künftig vermeiden zu wollen.
Bislang sprach man in Deutschland von "traurigen Ereignissen"oder von einem "dunklen Kapitel". Man verwendete mehr oder weniger unbestimmte Metaphern, die den brutalen Charakter und die Dimension des Geschehens nicht hinreichend beschrieben.
Völkermord als das "Verbrechen der Verbrechen"
tagesschau.de: Warum entflammen um den Begriff des Völkermords immer wieder so emotionale Diskussionen, sei es wegen der Verbrechen an den Armeniern oder der in Srebenica?
Brehl: Der Völkermord lässt sich als das "Verbrechen der Verbrechen" beschreiben. In diesem Zusammenhang stellen sich elementare Fragen nach historischer Schuld und nationaler Verantwortung. Der Tatbestand des Völkermords ist dann erfüllt, wenn vorsätzlich und absichtlich eine Bevölkerungsgruppe in ihrer Gesamtheit vernichtet wird. Sich dem zu stellen, ist für eine Gesellschaft eine große Herausforderung.
tagesschau.de: Welche Instanz stellt fest, ob es sich bei einem Massenmord um Völkermord handelt?
Brehl: Auf völkerrechtlicher Ebene ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag zuständig. Daneben ist es Aufgabe der historischen Forschung festzustellen, ob politische Strategien den Kriterien des Völkermords entsprechen.
Der Völkermord-Begriff ist ja 1948 von der UNO aufgrund der Erfahrung der massenhaften Ermordung von Juden, Armeniern und Herero geprägt worden. Maßgeblich daran beteiligt war der polnische Jurist und Friedensforscher Raphael Lemkin. Für die Definition von Völkermord ist es übrigens unerheblich, wie hoch die Zahl der Opfer ist.
Fanatischer Gestaltungswille
tagesschau.de: Lassen sich aus der Forschung Kriterien herleiten, wann und warum es zum Völkermord kommt?
Brehl: Die vergleichende Genozidforschung macht sich genau das zur Aufgabe und untersucht unter dieser Fragestellung Verlaufsstrukturen, Entscheidungsstrukturen und Durchführungsstrukturen von Gewaltpolitik: Welche Kriterien lassen sich nachweisen, die ein Ereignis als Völkermord qualifizieren? Dazu gehören Intention, ideologische Legitimierung und eben auch die Absicht, eine Gruppe als ganze zu vernichten.
Aus der Analyse lassen sich bestimmte Umstände ableiten, die es wahrscheinlicher machen, dass es zu einem Völkermord kommt. Wenn zum Beispiel eine Gesellschaft in hohem Maße ideologisiert ist. Wenn sehr stark zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit unterschieden wird. Wenn andere stigmatisiert und marginalisiert werden.
Solche Zusammenhänge beobachten wir sehr häufig gerade im vergangenen Jahrhundert, in Gesellschaften mit einem ausgeprägten bis übersteigertem Gestaltungsanspruch. Sowohl Nationalsozialisten als Stalinisten verfingen sich in der Idee, die verbesserungswürdige Gesellschaft nach ihren Maßstäben umzubauen. Auch der sogenannte Islamische Staat weist diesen fanatischen Gestaltungswillen auf.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de