Hintergrund

Zehn Jahre Wikipedia Eine Erfolgsgeschichte des freien Wissens

Stand: 15.01.2011 04:00 Uhr

Ein kostenloses Online-Lexikon in 278 Sprachen, insgesamt mehr als 17 Millionen Artikel, alle von Freiwilligen geschrieben: Wikipedia zählt seit Jahren zu den am meisten besuchten Seiten und ist aus den Netz nicht mehr wegzudenken. Am 15. Januar wird das Lexikon offiziell zehn Jahre alt.

Von Fiete Stegers, tagesschau.de

Suchen Sie eine Liste der größten deutschen Städte samt ihrer Einwohnerzahl von 1990? Interessiert Sie, in welcher Verwandtschaftsbeziehung Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg zu Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop steht? Wollen Sie wissen, auf welchem Längen- und Breitengrad der Petersdom liegt? Benötigen Sie Informationen darüber, wie die verschiedenen Arten von USB-Anschlüssen aussehen und wie genau der heißt, mit dem Sie ihre Digitalkamera anschließen können? Oder wollen Sie einfach nur rasch eine Erklärung des Spanischen Erbfolgekrieges überfliegen?

Egal, ob Sie über Google dorthin gelangen oder direkt die Wikipedia-Website ansteuern: In dem am 15. Januar 2001 von Jimmy Wales gestarteten Online-Lexikon finden sich Antworten noch auf die obskursten Fragen. Das von Millionen Freiwilligen aus aller Welt erstellte Lexikon ist eine der großen Erfolgsgeschichten des Internets.

Mit der Polymerase-Kettenreaktion ins deutsche Web

Die englischsprachige Wikipedia zählt inzwischen mehr als 3,5 Millionen Artikel. Die am 12. Mai 2001 mit dem Artikel "Polymerase-Kettenreaktion" gestartete deutsche Ausgabe der Wikipedia ist inzwischen mit mehr als 1,17 Millionen Artikeln die zweitgrößte Ausgabe. Wikipedia gibt es aber noch in viel mehr Sprachen: etwa in Esperanto, Yoruba, Jiddisch und Grönländisch. Nicht alle Versionen stoßen auf gleiches Interesse und Engagement: Nordfriesisch hat nur gut 1000 Artikel, die Version in der afrikanischen Sprache Kanuri wurde wieder eingestellt.

Dass alle Artikel anders als bei Lexikon-Klassikern wie "Brockhaus" oder "Enzyclopaedia Britannica" gemeinschaftlich von Freiwilligen - vom Laien bis zum Professor - geschrieben werden, hat die Akzeptanz von Wikipedia beim Publikum nicht gestört: Die Website zählt seit Jahren zu den am meisten besuchten im Netz. Hinzu kommt: Wikipedia ist besonders googlefreundlich - dadurch werden viele Besucher auf die Seite gelenkt. Auch die Lizenz-Politik trägt zur starken Präsenz von Wikipedia im Netz bei: Wikipedia-Inhalte dürfen von anderen Websites übernommen werden, wenn die Herkunft entsprechend gekennzeichnet wird.

Hintergrund
Bei Wikipedia kann jeder Internet-Nutzer einen Artikel verfassen, ergänzen oder korrigieren, wenn ihm ein Fehler oder eine Lücke auffällt. Alle Änderungen werden gespeichert und können jederzeit (durch einen Klick) auf "Versionen" eingesehen und gegebenenfalls rückgängig gemacht werden. Erfahrene Benutzer wachen über die Einhaltung der Wikipedia-Richtlinien: Zum Codex der Schreiber gehört, dass die Themen für ein Lexikon relevant sein müssen. Artikel sollen sachlich formuliert, Wertungen vermieden werden ("neutraler Standpunkt"). Alle Informationen sollen durch verlässliche Quellen außerhalb der Wikipedia (z. B. Sachbücher oder Zeitungsartikel) belegt werden. Autoren können sich bei Wikipedia als Nutzer registrieren, es ist aber keine Pflicht.

Das baut auf dem Grundsatz von Wikipedia auf: Wissen soll frei verbreitet werden. Dieser Grundsatz sei es auch, der viele Nutzer dazu bringe, Beiträge für Wikipedia zu schreiben, sagt der Soziologe Christian Stegbauer von der Universität Frankfurt: "Die Einstiegsmotivation ist häufig ideologisch." Sprich: Neulinge machen mit, weil sie die freie Verbreitung von Wissen vorantreiben möchten. Oder weil sie Wikipedia als passive Nutzer selbst viel gebraucht haben und nun etwas zurückgeben wollen.

Was ist wichtig genug fürs Lexikon?

"Allerdings trägt die Anfangsmotiviation meist nicht sehr lange", hat Stegbauer beobachtet. Wie bei den meisten Mitmach-Projekten sei nur ein kleiner Teil aller angemeldeten Nutzer wirklich rege aktiv. Auf manche Neulinge wirken auch die gewachsenen Wikipedia-Strukuren mittlerweile abschreckend. "Zu Anfang hat man auch sehr einfache Artikel akzeptiert, inzwischen gibt es rund 30 A4-Seiten Richtlinien für Neueinsteiger." Einsteiger machten häufig die Erfahrung, dass ihre ersten eigenen Artikel umgehend gelöscht werden, weil sie nicht den inhaltlichen und gestalterischen Ansprüchen der Wikipedia entsprächen.

Immer wieder geht dabei die Diskussion um die Frage: Wie relevant ist ein Artikel, eine Information für ein Lexikon? "Soll es beispielsweise zu jeder Schulband einen Artikel geben?" fragt Stegbauer. Insbesondere in Deutschland wurde über die generelle Frage der Relevanzkriterien heftig gestritten. Die englischsprachige Wikipedia sieht das entspannter: Dort gibt es beispielsweise Artikel über Leben und Wirken von Serienhelden wie "Jack Bauer" und "Donald Draper", die sich mit großer Detailgenauigkeit den Charakterzügen und Lebensläufen dieser fiktiven Figuren widmen.

Die Frage nach der Qualität

In der Öffentlichkeit stand in den vergangenen Jahren eher die Frage nach der Qualität von Wikipedia und danach, wie anfällig das offene System für Vandalismus oder gezielte Manipulation ist, im Vordergrund. Stichprobenartige Vergleiche ergaben bisher stets, dass Wikipedia hier mit renommierten Lexika alten Stils mithalten kann. "Wenn ich in meinem Fachgebiet schaue, können die Artikel ganz hervorragend sein", sagt der Soziologe Stegbauer. Auch bei viel abgerufen Artikeln funktioniert das Kontrollsystem von Wikipedia gut.

Immer wieder gab es aber auch von Personen oder Institutionen Versuche, sie selbst betreffende Einträge nicht nur zu korrigieren, sondern zu schönen oder gezielt zu manipulieren. Ins Gerede gerieten derart etwa der ehemalige Siemens-Vorstandsvorsitzende Klaus Kleinfeld und der CDU-Politiker Jürgen Rüttgers. Mehrmals wurden noch lebende Personen in der Wikipedia für tot erklärt. Über den US-Journalisten John Seigenthaler stand 2005 mehrere Monate lang zu lesen, er sei an den Mordanschlägen auf Robert und John F. Kennedy beteiligt gewesen. Auch schmuggeln Witzbolde immer wieder Fantasieeinträge ins Lexikon.

Nicht immer perfekt, aber fast immer schnell

In weniger gefragten Artikeln können sich nicht nur Manipulationen, sondern auch inhaltliche Schräglagen und Lücken länger halten. Das sei aber im "Brockhaus" ähnlich, sagt Stegbauer. "Wenn dort Artikel nur von einem Autor geschrieben werden, können auch Aspekte fehlen."

Und weil es bei Wikipedia keine zentrale Redaktion gibt, die Arbeitsaufträge vergibt, kann es auch vorkommen, dass es zu einem Stichwort noch gar keinen Artikel gibt, wenn noch kein Autor von sich aus aktiv wurde. Meistens ist es aber andersherum: Wenn eine prominente Person zurückgetreten oder verstorben ist, dauert es oft nur Minuten, bis der entsprechende Artikel auf dem neuesten Stand ist. Mehrere Versuche, Wikipedia-Alternativen mit strikteren Kontrollmechanismen zu etablieren, konnten aber nicht die Dynamik des Originals entwickeln und scheiterten. Dafür haben sich eine Menge Nachahmer gefunden, die das offene Wikipedia-Prinzip für Spezial-Wikis zu den unterschiedlichsten Interessengebieten einsetzen.

Wie wird es mit Wikipedia weitergehen? Schwer zu sagen, meint Stegbauer: "Im Moment kommen zu wenige neue Benutzer dazu. Wenn man das fortschreibt, könnte Wikipedia an Attraktivität verlieren - aber sobald sich das abzeichnet, könnte das auch wieder eine Dynamik in der umgekehrten Richtung auslösen."