Bootsunglück im Mittelmeer Zweifel an griechischer Version
Nach dem schweren Bootsunglück im Mittelmeer sind viele Details weiterhin unklar. Die griechische Regierung weist jegliche Schuld von sich. Doch einige ihrer Angaben zum Küstenwacheneinsatz sind widersprüchlich.
Es ist auf den ersten Blick eine Überfahrt wie viele andere in diesem Jahr: Ein Fischerboot voller Migranten macht sich auf den Weg nach Europa. Es startet in Ägypten, legt in der libyschen Stadt Tobruk einen Zwischenstopp ein und nimmt dann über das zentrale Mittelmeer Kurs auf Italien.
An Bord sollen 500 bis 700 Menschen gewesen sein, genaue Zahlen gibt es bisher nicht. Bilder der griechischen Küstenwache zeigen ein völlig überfülltes Deck, auf dem niemand Schwimmwesten trägt.
Hunderte Menschen vermisst
Gegen 2:04 Uhr in der Nacht auf Mittwoch, den 14. Juni, ereignet sich dann eines der schlimmsten Bootsunglücke der vergangenen Jahren. Das Fischerboot sinkt rund 50 Seemeilen südwestlich der Halbinsel Peloponnes in internationalen Gewässern. 104 Menschen können gerettet werden. 82 Tote werden in den folgenden Tagen geborgen. Es muss davon ausgegangen werden, dass der Großteil der Menschen an Bord zusammen mit dem Kutter untergegangen ist.
Doch was ist genau geschehen in dieser Nacht? Hätte die griechische Küstenwache eingreifen können und müssen, um so das Unglück zu verhindern? Darüber, was sich in den Stunden vor dem Untergang ereignet hat, gibt es grundlegend verschiedene Aussagen - der Versuch einer Rekonstruktion.
Erstkontakt mit dem Boot
Dass das Boot unterwegs ist, wissen seit Dienstag, 13. Juni, mehrere für eine mögliche Rettung relevante Stellen. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex hatte das Boot am Dienstagmorgen von einem Flugzeug aus gesichtet und die griechischen und italienischen Behörden benachrichtigt. Frontex meldete, dass das Boot überfüllt ist und mit "langsamer Geschwindigkeit (6 Knoten)" fährt.
Die Freiwilligenorganisation Alarm-Phone, die sich für die Seenotrettung von Migranten und Flüchtenden einsetzt, hat seit Dienstagmorgen Kontakt mit dem Boot. Sie schreibt in ihrem Einsatzprotokoll, dass die Kommunikation schwierig gewesen ist. Die Migranten, mit denen sie an Bord Kontakt hatten, haben laut dem Protokoll gesagt, dass sie die Nacht nicht überleben und in Seenot sind.
Zudem haben an diesem Dienstag mehrere Frachter Kontakt mit den Migranten, um ihnen Essen und Wasser zu geben.
Verschiedene Aussagen über Ablauf des Unglücks
Bis zu diesem Punkt decken sich die Versionen der verschiedenen Beteiligten in Grundzügen. Danach unterscheiden sich die Darstellungen grundlegend. Im Mittelpunkt der Debatte steht die Frage: War die griechische Küstenwache mitverantwortlich für das Sinken des Bootes?
Einige Überlebende berichten, dass die Küstenwache ein Seil an ihrem Boot befestigt habe, um es in Schlepptau zu nehmen. Ein Geretteter, der seinen Namen nicht nennen will, beschreibt die Situation so: "Die griechische Küstenwache kam auf uns zu. Sie warfen uns ein blaues Seil zu. Wir haben das Schiff daran festgemacht. Sie begannen, unser Schiff abzuschleppen." Das habe den Kutter erst zum Kentern gebracht.
Maria Papamina, Anwältin und Koordinatorin des Rechtsdienstes der Nichtregierungsorganisation Greek Council for Refugees, hat nach eigenen Angaben mit vielen Überlebenden des Bootsunglücks gesprochen. Sie sagt, die meisten Menschen hätten fast identisch beschrieben, dass die griechische Küstenwache das Boot für einige Minuten in Schlepptau genommen habe. Dadurch sei es ins Wackeln geraten und gekentert.
Fünf Überlebende sagten am 17. und am 18. Juni vor einer Untersuchungsrichterin ebenfalls aus, dass ein Abschleppversuch durch die Küstenwache Richtung Griechenland das Unglück verursacht habe.
Die Küstenwache beschreibt in ihrem veröffentlichten Einsatzprotokoll dagegen, dass die Passagiere des Bootes um 1.40 Uhr einen Maschinenschaden gemeldet haben, also ungefähr 25 Minuten bevor es gesunken ist. Anschließend habe sich das Boot zuerst nicht mehr bewegt, sei dann ins Wanken gekommen und gesunken.
Welche Rolle spielte das Tau?
Den Vorwurf, dass sie versucht haben, das Boot in Schlepptau zu nehmen, weisen die Küstenwache und die griechische Regierung zurück. Das spezifische Schiff der Küstenwache könne aufgrund seiner technischen Voraussetzungen überhaupt kein Boot in Schlepptau nehmen, so die Küstenwache. Die Küstenwache hat allerdings ihre Version des Tathergangs mehrmals unterschiedlich beschrieben.
Am Anfang sagte ein Sprecher der Küstenwache in der Sendung Connection des griechischen Fernsehsenders ERT, man habe überhaupt kein Seil genutzt. In der gleichen Sendung äußerte sich wenig später Ilias Siakantaris, ein Sprecher der geschäftsführenden griechischen Regierung, so: "Wir haben das Schiff nicht in Schlepptau genommen. Es gab ein Tau, um es zu stabilisieren, um näher heranzukommen, um zu sehen, ob sie Hilfe brauchen. Sie sagten, sie wollten keine Hilfe, sondern nach Italien und sind weitergefahren." Dieser Version schloss sich dann auch die Küstenwache an. Irgendwann, so die Küstenwache, habe sich das Boot nicht mehr bewegt. Wenig später sei das Boot gekentert und innerhalb kürzester Zeit gesunken.
Robert Nestler, Jurist und Geschäftsführer der griechischen gemeinnützigen Organisation Equal Rights Beyond Borders, sagt, er wäre nicht überrascht, wenn die Küstenwache versucht hätte, das Fischerboot in Richtung Italien zu ziehen. Erst vergangenes Jahr wurde Griechenland bereits einmal wegen unterlassener Hilfeleistung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt - wegen eines Bootsunglücks mit elf Toten nahe der Insel Farmakosi. Auch damals stand der Verdacht im Raum, dass das Boot möglicherweise wegen eines versuchten Pushbacks der griechischen Küstenwache gesunken ist.
Dass der Ablauf in der aktuellen Situation ähnlich war, kann Nestler nicht beweisen. Dass die griechische Küstenwache in einem anderen Fall versucht hat, ein Boot in die Hoheitsgewässer eines anderen Staats zu schleppen, ist für ihn aber ein Indiz dafür, dass sie das auch diesmal versucht haben könnte.
In einem Punkt scheint für ihn die Version der Küstenwache aber schlüssig: Dass die Migranten nach Italien wollten, nicht nach Griechenland. Griechenland habe sich den Ruf erarbeitet, einer der schlechtesten Orte zu sein, an dem Geflüchtete in Europa ankommen können, so Nestler.
Es gibt also verschiedene übereinstimmende Aussagen, wonach für kurze Zeit ein Tau auf das Boot geworfen sein soll. Unklar ist der Grund: Um es zu stabilisieren, um die Menschen zu versorgen oder um es abzuschleppen? Zudem ist nicht bekannt, ob das Werfen des Taus in irgendeiner Verbindung zum Kentern des Bootes steht.
Brauchten die Migranten schon früher Hilfe?
Eine weitere Frage, die immer wieder gestellt wird, ist, warum die griechische Küstenwache nicht schon viel früher eingegriffen hat, als sie das überfüllte Boot mit den Menschen an Bord entdeckt hat.
Die griechische Küstenwache sagt, dass sie den Migranten auf dem Boot mehrmals Hilfe angeboten habe. Der Satellitentelefonbenutzer an Bord des Bootes, der Englisch sprach, habe geantwortet, dass das Boot nicht in Gefahr sei, sie außer Nahrung und Wasser keine Hilfe bräuchten und dass sie weiter nach Italien fahren wollten. Das Migrantenboot sei außerdem fahrtüchtig gewesen und habe in normaler Geschwindigkeit Kurs auf Italien gehalten.
Wenn diese Angaben der Realität entsprechen, dann hat die Küstenwache nach Ansicht von Marian Wendt, dem Leiter des Griechenland-Büros der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, im rechtlichen Rahmen alles Mögliche getan. Auf Twitter schreibt Wendt kurz nach dem Unglück: "Es gibt, wenn sich das Schiff in internationalen Gewässern befindet, weder eine rechtliche Handhabe, mit Zwang zu evakuieren", noch sei das gegen den Willen der Besatzung möglich und zudem auch technisch schwierig.
Nestler sieht das anders. Einzelne Personen, die möglicherweise keine Rettung gewollt haben, könnten nicht für alle Menschen auf einem überfüllten Boot sprechen. Objektiv habe ein Seenotrettungsfall vorgelegen, sagt Nestler. Die griechische Küstenwache hätte also trotz allem anfangen müssen zu retten und gegebenenfalls ein größeres Schiff oder weitere Schiffe anfordern müssen.
BBC-Recherche zieht Version der Küstenwache in Zweifel
Die Version der Küstenwache, dass sich das Boot mit konstantem Kurs und bei konstanter Geschwindigkeit bewegt hat, wird durch eine Recherche des britischen TV-Senders BBC in Zweifel gezogen. Ein Investigativ-Team hat Schiffsdaten rund um die Unglücksstelle ausgewertet. Zwar waren weder das gesunkene Migranten-Boot noch die Küstenwache mit Ortungssystemen ausgestattet, doch die Journalisten haben die Bewegungsdaten der anderen Schiffe, die dem Unglücksboot zum Beispiel Wasser gebracht haben, ausgewertet.
Diese Daten weisen darauf hin, dass das Migrantenboot mindestens sieben Stunden lang fast bewegungslos im Wasser lag, da alle Frachter, die Kontakt mit ihm hatten, stets fast an die gleiche Stelle gefahren sind. Stimmen diese Recherchen, wäre das Migrantenboot sehr viel länger fahruntauglich und damit in Seenot gewesen als die griechische Küstenwache behauptet. Die Küstenwache hat die Berichte der BBC in einer Stellungnahme zurückgewiesen.