Fragen und Antworten Was passierte in Chan Scheichun?
Wurden bei dem Luftangriff auf die syrische Stadt Chan Scheichun Chemiewaffen eingesetzt? Was spricht dafür, was dagegen? Welche Quellen gibt es? Und wer ist mutmaßlich verantwortlich? Von Andrej Reisin.
Was ist passiert?
Am 4. April 2017, einem Dienstagmorgen gegen 6.30 Uhr Ortszeit, gab es einen Luftangriff auf die 90.000-Einwohner-Stadt Chan Scheichun, in der nordwestlichen syrischen Provinz Idlib. Die Stadt liegt etwa 50 Kilometer Luftlinie von der türkischen Grenze entfernt. Kurz nach dem Angriff berichteten Augenzeugen von Verletzten mit akuter Atemnot. Laut ihren Berichten und zahlreichen Bildern lagen die Opfer regungslos auf dem Boden, mit weit aufgerissenen Augen und verengten Pupillen, aber ohne erkennbare äußere Verletzungen. Betroffene klagten zudem über unkontrollierte Krämpfe, einige Verletzte hatten Schaum vor dem Mund. Diese Anzeichen deuten auf den Einsatz chemischer Kampfstoffe hin. Auch zwei Fotojournalisten der französischen Nachrichtenagentur AFP sahen äußerlich scheinbar unverletzte leblose Körper und Verletzte, die unter Atemnot und Krämpfen litten.
Wie viele Opfer gibt es?
Unabhängige Angaben dazu gibt es nicht. Laut Quellen, die der syrischen Opposition nahestehen, wurden mindestens 86 Menschen getötet und Hunderte verletzt. Da niemand einen genauen Überblick hat, könnte die Zahl der Opfer aber noch steigen. Mehrere Verletzte wurden in türkische Krankenhäuser gebracht.
Was sagen unabhängige Quellen?
Die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" teilte in einer Stellungnahme mit, dass nach ihrer Einschätzung bei dem Angriff ein Nervengas zum Einsatz gekommen ist. Die Symptome mehrerer Patienten, die von Ärzten der Nichtregierungsorganisation untersucht wurden, deuteten auf Sarin oder ähnliche Giftgase hin. Zu diesen Symptomen zählten verengte Pupillen, Muskelzuckungen und unkontrollierter Stuhlgang.
Laut der Hilfsorganisation hätten Mitarbeiter bei Behandlungen auch Chlorgeruch wahrgenommen. "Diese Berichtete deuten stark darauf hin, dass die Opfer des Angriffs auf Chan Scheichun mindestens zwei verschiedenen chemischen Kampfstoffen ausgesetzt waren", so "Ärzte ohne Grenzen".
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zeigte sich "alarmiert über den Einsatz hochgiftiger Chemikalien als Waffen in Syrien". "Diese Form von Waffen ist durch internationales Recht verboten, weil sie eine untolerierbare Barbarei darstellt", sagte der Leiter des WHO-Nothilfeprogramms, Dr. Peter Salama. Die WHO habe Gegengifte und Medikamente bereitgestellt und organisiere weitere medizinische Versorgung aus der Türkei.
Die "Organisation für das Verbot chemischer Waffen" (OPCW), die 2013 den Friedensnobelpreis verliehen bekam, erklärte zunächst ihre "ernsthafte Sorge" über die Berichte eines Chemiewaffeneinsatzes in Chan Scheichun. Eine Aufklärungsmission der Organisation, der 192 Staaten angehören, die die Chemiewaffenkonvention der Vereinten Nationen (UNO) unterzeichnet haben, sei in Vorbereitung.
Am 19. April teilte die Organisation dann mit: Ja, es wurde Giftgas eingesetzt, so die Experten - das sei "unbestreitbar". Wahrscheinlich handelte es sich bei der verwendeten Substanz um Sarin oder einen dem Nervengas sehr ähnlichen Mittel, hieß es von der OPCW weiter. Schon 2013 waren die Chemiewaffenkontrolleure nach eingehenden Untersuchungen zu der Überzeugung gelangt, dass in Syrien Boden-Boden-Raketen mit dem tödlichen Giftgas Sarin eingesetzt worden waren. Der UN-Bericht vermied es aber auch damals, einer der beteiligten Konfliktparteien für den Einsatz verantwortlich zu machen.
Wer trägt die Verantwortung?
Die syrische Opposition, ebenso wie die USA, Frankreich und Großbritannien machen das Regime von Machthaber Bashar al-Assad verantwortlich. US-Außenminister Rex Tillerson sagte, die USA hätten "keine Zweifel" daran, dass die syrische Regierung für die "schreckliche Attacke" verantwortlich sei. Bei der Autopsie von drei Opfern des Luftangriffs hat sich nach Angaben der türkischen Behörden bestätigt, dass Chemiewaffen zum Einsatz kamen. Der türkische Justizminister Bekir Bozdag machte für den Einsatz ebenfalls die syrische Führung verantwortlich.
UN-Generalsekretär Antonio Guterres äußerte sich indes zurückhaltender, während die syrische Armee und die Regierung in Damaskus bestritten, Chemiewaffen eingesetzt zu haben. Russland erklärte, die syrische Luftwaffe habe ein Lager der Rebellen für "Giftstoffe" getroffen, die daraufhin freigesetzt worden seien.
Was ist plausibel?
Weder die USA noch Großbritannien haben bislang Beweise für die Verantwortung des Assad-Regimes offengelegt.
Für die russische Erklärung für die Giftgas-Freisetzung fehlen anhand der bisher bekannten Bilder allerdings jegliche Indizien. Nirgendwo sind Explosionen am Boden, brennende Munitionsfabriken oder -depots zu sehen. Der Chemiewaffenexperte und Toxikologe Ralf Trapp erklärt im Gespräch mit dem ARD-faktenfinder, dass es außerhalb dafür vorgesehener militärischer Einrichtungen in der Regel sehr schwierig sei, chemische Kampfstoffe in größerer Menge zu lagern. Diese seien wegen ihrer Instabilität einerseits gefährlich, andererseits würden sie unwirksam, je länger sie liegen. "Da viele Armeen damit schon Probleme haben, wirft die Vorstellung einer improvisierten Produktions-, Lager- und Abtransporteinrichtung, wie sie die Russen skizzieren, sehr viele Fragen auf", sagt Trapp.
In der Erklärung des Sprechers des russischen Verteidigungsministeriums, Generalmajor Igor Konaschenkow, heißt es außerdem, der Luftangriff habe "zwischen 11.30 Uhr und 12.30 Uhr Ortszeit" stattgefunden. Laut Augenzeugen fand der Angriff dagegen bereits um 6.30 Uhr Ortszeit statt. Die Nachrichtenagenturen verschickten ihre ersten Meldungen über einen möglichen Giftgasangriff bereits kurz vor 10 Uhr syrischer Zeit. Auch zahlreiche Augenzeugen, Hilfskräfte und Journalisten hatten zu diesem Zeitpunkt bereits in sozialen Medien Bilder von Toten und Verletzten gepostet.
Wieso gibt es in Syrien überhaupt Chemiewaffen?
Die syrische Regierung hatte im September 2013 auf Druck der USA und den Vereinten Nationen unter Vermittlung von Russland zugesagt, sämtliche Chemiewaffen zu zerstören. Unter Aufsicht der OPCW wurden bis Januar 2016 alle von Syrien offiziell deklarierten Chemiewaffen außer Landes gebracht und nach und nach unschädlich gemacht. Ein Teil der Reststoffe wurde in einer Spezialanlage in Deutschland entsorgt. Allerdings gab es immer wieder Zweifel daran, dass das Assad-Regime wirklich alle Bestände deklariert hatte.
Der Chemiewaffenexperte und Toxikologe Ralf Trapp sagte im Deutschlandfunk: "Was wir nicht wissen ist, ob die Meldungen seinerzeit vollständig gewesen sind, oder ob etwas zurückgehalten worden ist. Es ist auch nicht unbedingt klar, ob nicht inzwischen versucht worden ist, neue Kampfstoffe oder zumindest neue Vorstufen für Kampfstoffe zu bevorraten."
Zudem fiel Chlorgas, das vielfach in der Industrie eingesetzt wird, nicht unter die Vereinbarung. Auch die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) wird von der OPCW verdächtigt, den chemischen Kampfstoff Senfgas hergestellt und verwendet zu haben.