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Corona-Pandemie Weniger gefährlich als die Grippe?

Stand: 29.03.2020 08:11 Uhr

Seit Tagen sorgen Aussagen für Aufsehen, wonach das neuartige Coronavirus weniger gefährlich sei als die Grippe. Als vermeintlicher Beleg dient eine Zahl von 25.000 Grippetoten. Doch der Vergleich hinkt.

Von Patrick Gensing, ARD-aktuell

Die ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Vera Lengsfeld rief am Samstag auf Twitter dazu auf, eine Online-Petition zu unterzeichnen. Darin wird gefordert, dass alle Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie sofort aufgehoben werden müssen. Begründung:

Die derzeitige durch das Corona Virus Covid19 hervorgerufene Grippewelle ist nachweislich weit weniger gefährlich als andere Grippewellen, was man z.B. an den Fallzahlen ablesen kann, die das Robert Koch Institut (RKI) täglich bekannt gibt. Demnach lag am 25. März 2020 die Anzahl der Infizierten bei 31.554, die Zahl der Todesfälle bei 149.

Hier finden sich gleich zwei Ungenauigkeiten: Das neuartige Virus heißt nicht Covid19, sondern trägt den Namen Sars-CoV-2. Die dadurch ausgelöste Krankheit wird Covid19 genannt.

Zudem lassen sich aus den Fallzahlen vom 25. März keine generellen Rückschlüsse ziehen, wie gefährlich Covid19 ist. Experten betonen immer wieder, dass man erst am Anfang der Pandemie stehe - und dass es eine beträchtliche Dunkelziffer bei den Infizierten gebe und sich auch die Zahl der Todesopfer noch dramatisch erhöhen könne. Gleichzeitig könnten die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus auch dazu führen, dass die Zahl der Todesopfer in Deutschland vergleichsweise gering bleibt.

Weiter schreiben die Initiatoren - ein Ehepaar aus NRW - der Petition:

Ein Vergleich mit den aufgrund von Grippe-Erkrankungen Verstorbenen aus Vorjahren zeigt deutlich, dass die Mortalitätsrate bei der Covid19-Grippe sehr gering ist. Laut RKI-Präsident Lothar Wieler hat die Grippewelle 2017/18 in Deutschland rund 25.100 Menschen das Leben gekostet. 

Tatsächlich hatte das Robert Koch Institut (RKI) die Zahl der Toten durch die Grippewelle 2017/18 mit rund 25.000 angegeben. Diese Zahl bezog sich aber nicht auf einen Stichtag zu Beginn der Grippewelle, sondern auf einen Zeitraum von mehreren Monaten. Würde man andersherum beispielsweise die bislang mehr als 10.000 italienischen Corona-Toten - Stand 28. März - auf vier Monate hochrechnen, würde man auf weit mehr als 40.000 Tote kommen. Doch solche Rechnungen erscheinen wenig sinnvoll.

Geschätzte Zahl

Zudem: Die Zahl von 25.000 Grippetoten ist geschätzt. Sie ergibt sich aus der Berechnung der sogenannten Übersterblichkeit. Der Grund ist, dass oft nicht klar ist, ob jemand an einer Grippe oder beispielsweise einer Lungenentzündung gestorben ist. Das gilt insbesondere für Menschen mit Vorerkrankungen und ältere Personen. Das RKI erklärt das Verfahren so:

Die Zahl der mit Influenza in Zusammenhang stehenden Todesfälle wird - vereinfacht dargestellt - als die Differenz berechnet, die sich ergibt, wenn von der Zahl aller Todesfälle, die während der Influenzawelle auftreten, die Todesfallzahl abgezogen wird, die (aus historischen Daten berechnet) aufgetreten wäre, wenn es in dieser Zeit keine Influenzawelle gegeben hätte. Das Schätz-Ergebnis wird als sogenannte Übersterblichkeit (Exzess-Mortalität) bezeichnet.

Weiterhin ist die Zahl von geschätzt 25.000 Grippetoten während der Grippewelle 2017/18 ungewöhnlich hoch. Das RKI betonte bei der Vorstellung der Bilanz, so eine hohe Zahl sei selten. Tatsächlich gab es in anderen Jahren gar keine Übersterblichkeit" in einigen Jahren einige hundert Fälle, in anderen aber bis zu 21.300. Hier ein Überblick der "Exzess-Schätzung" des RKI zu den "Influenza-bedingten Todesfällen" seit 2001:*

Influenza-bedingte Todesfälle / Quelle: RKI
Saison Exzess-Schätzung Laborbestätigte Todesfälle
2001/02 0 8
2002/03 8000 17
2003/04 0 6
2004/05 11.700 13
2005/06 0 5
2006/07 200 8
2007/08 900 7
2008/09 18.800 10
2009/10 0 258
2010/11 0 165
2011/12 2400 14
2012/13 20.700 196
2013/14 0 23
2014/15 21.300 274
2015/16 0 237
2016/17 22.900 722
2017/18 25.100 1674
2018/19 n.V. 954

Keine Impfung gegen Covid19

Ein zentraler Aspekt wird in der Petition zudem gar nicht erwähnt: Gegen Influenzaviren gibt es bei vielen Menschen eine Grundimmunität, zudem stehen Impfstoffe zur Verfügung. Dies ist bei Covid19 nicht der Fall: Weder ist eine nennenswerte Zahl von Personen immun - und durch die fehlenden Gegenmittel sind die Menschen dem Virus schutzlos ausgeliefert.

Sollte sich dieses neuartige Virus ungehindert ausbreiten, könnten sich nach Schätzungen von Experten bis zu zwei Drittel der Bevölkerung infizieren. Das wären in Deutschland weit mehr als 50 Millionen Menschen.

Auswertungen aus anderen Ländern zeigen: Bei 80 Prozent der Infizierten verläuft Covid19 relativ leicht, bei rund 15 Prozent schwer und bei weiteren fünf Prozent kritisch. Das heißt: In einem solchen Szenario könnte es Millionen Erkrankte mit schweren oder sogar kritischen Verläufen geben.

Dies ist das "Worst-Case"-Szenario, vor dem viele Experten warnen - und daher drastische Maßnahmen gefordert haben, um die Verbreitung zu verlangsamen oder zu begrenzen. Damit sollen insbesondere Risikogruppen geschützt werden. Denn: Ältere Menschen und Personen mit Vorerkrankungen sind besonders gefährdet, schwer an Covid19 zu erkranken. So liegt in Deutschland das Durchschnittsalter der registrierten Infizierten bei ungefähr Mitte 40; das Durchschnittsalter der Verstorbenen hingegen bei über 80 Jahren.

Vieles ist noch unklar

Der Vergleich mit der Grippe und den geschätzt 25.000 Verstorbenen bei der Grippewelle 2017/18 tauchen immer wieder auf. Doch niemand kann derzeit genau sagen, wie sich die Zahl der Infizierten und die Sterberate bei der Corona-Pandemie entwickeln werden. Dabei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Klar ist aber, dass sich das Virus schnell weltweit ausbreitet und dass Experten übereinstimmend warnen, man stehe erst am Anfang dieser Pandemie.

Dementsprechend ist es nicht nur unseriös, sondern unverantwortlich, die Zahl der Todesopfer vom Beginn einer Pandemie zu nehmen, mit einer geschätzten Zahl von Verstorbenen einer außergewöhnlich schweren und Monate dauernden Grippewelle zu vergleichen - und auf dieser Basis zu behaupten, das Coronavirus sei eigentlich harmlos. Seriöse Forscher betonen immer wieder, dass man mit Prognosen und Vergleichen zurückhaltend sein müsse.

*Hinweis der Redaktion: Die Zahlen zu den geschätzten und laborbestätigten Todeszahlen wurden ergänzt.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 27. März 2020 um 12:45 Uhr.