Altern in Deutschland Gibt es wirklich mehr Einsamkeit?
Der Anteil der einsamen Menschen steigt - so eine alarmierende Meldung, die vergangene Woche zahlreiche Medien veröffentlichten. Doch ausgerechnet aus dem Institut, das die Zahlen lieferte, kommt Widerspruch.
Es war eine bedrückende Meldung: Immer mehr Menschen in Deutschland litten an Einsamkeit, berichtete die "Rheinische Post" in der vergangenen Woche - und das Problem verschärfe sich. Die Zahlen, die die Zeitung dazu nannte, lasen sich alarmierend: Die Einsamkeitsquote bei den 45- bis 84-Jährigen sei von 2011 bis 2017 um rund 15 Prozent gestiegen, in einzelnen Altersgruppen sogar um fast 60 Prozent. Und auch Jugendliche seien betroffen.
Die Zeitung bezog sich dabei auf eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der FDP. Nachrichtenagenturen und viele Medien, auch tagesschau.de, übernahmen die Meldung. Doch rasch äußerten Wissenschaftler, die zu dem Thema forschen, gegenüber der tagesschau Zweifel. So meldete sich etwa Clemens Tesch-Römer, Institutsleiter am Deutschen Zentrum für Altersfragen. Die Meldung sei irreführend, sagte er: "Einsamkeit ist keine Epidemie, und sie hat in den letzten zwei Jahrzehnten auch nicht zugenommen."
"Einsamkeitsrate seit Mitte der 1990er-Jahre stabil"
Kurios dabei: Die Bundesregierung bezieht sich in ihrer Antwort zu den über 45-Jährigen ausgerechnet auf die Zahlen des Deutschen Alterssurveys (DEAS) - und der wird eben an Tesch-Römers Deutschen Zentrum für Altersfragen erstellt.
Der DEAS ist die bedeutendste Langzeitstudie zum Thema Altern in Deutschland und wird aus Mitteln des Familienministeriums gefördert. Seit mehr als 20 Jahren untersuchen Wissenschaftler darin den Prozess des Alterns. Zum Thema Einsamkeit wurden insgesamt mehr als 16.000 Menschen befragt. Und die Ergebnisse lassen laut den Forschern einen anderen Schluss zu, als es vergangene Woche zu lesen war.
"Es zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeit, einsam zu sein, in den letzten 20 Jahren zwischen sieben und zehn Prozent schwankt", sagt Tesch-Römer. Dabei sei das Einsamkeitsrisiko bei den 40- und über 80-Jährigen ähnlich hoch, sinke aber in den Jahrzehnten dazwischen. Schwankungen gebe es immer. Aber insgesamt zeige sich: "Die Einsamkeitsrate ist seit Mitte der 1990er-Jahre stabil geblieben."
Für den Deutschen Alterssurvey werden Personen im Alter ab 40 Jahren zu verschiedenen Aspekten ihres Lebens befragt - auch zu den Themen Einsamkeit und soziale Isolation. Während diese in der öffentlichen Debatte oft synonym gebraucht werden, trennt die Wissenschaft diese beiden Begriffe klar: Die soziale Isolation wird laut dem Deutschen Zentrum für Altersfragen als bedeutender Mangel im Kontakt zu anderen Menschen betrachtet, der auch objektiv beschrieben werden kann. Dagegen ist Einsamkeit eine sehr subjektive Erfahrung. So können sich auch Menschen einsam fühlen, die objektiv gesehen über viele soziale Kontakte verfügen, denen darin jedoch emotionale Tiefe und Verständnis fehlen.
Ähnlich klingt es in einer Zusammenfassung, die die DEAS-Autoren für die Anfrage der FDP zusammengestellt haben. "Für eine starke Zunahme zumindest in der Prävalenz von Einsamkeit lassen sich keine Belege finden", heißt es darin. "Ein Anstieg in der Anzahl einsamer Menschen in der Bevölkerungsgruppe von 45 bis 84 Jahren ist allenfalls ein Ergebnis des Anwachsens dieser Altersgruppe."
In der jüngsten Veröffentlichung der Studienergebnisse wird es noch konkreter: "Wenn sich die gesellschaftlichen Gegebenheiten in der nächsten Dekade nicht radikal ändern, werden die dann 70- bis 90-Jährigen nicht häufiger isoliert oder einsam sein als die heute 70- bis 90-Jährigen", heißt es dort.
Auch andere Untersuchungen kämen zu ähnlichen Ergebnissen, sagt Susanne Bücker, die an der Ruhr-Universität Bochum zu dem Thema promoviert. Sie verweist unter anderem auf eine Studie aus dem Jahr 2016 - sie zeige, dass die Menschen mit dem mittleren Geburtsjahr 1939 etwas weniger einsam seien als es die früher Geborenen (mittleres Geburtsjahr 1916) in etwa demselben Alter waren.
Verkürzte Darstellung?
Wie kam es also zu der Meldung von der wachsenden Einsamkeit? Tatsächlich finden sich in der Antwort der Bundesregierung konkrete Zahlen des DEAS, die in der Berichterstattung auch verwendet, aber nach Meinung der Forscher verkürzt dargestellt und damit anders interpretierbar wurden. Wie von der FDP angefragt ist der Anteil der sich einsam fühlenden Personen in den vergangenen zehn Jahren aufgeführt - erstellt im Dreijahrestakt seit 2008. Doch in den Meldungen tauchten erst die Zahlen ab 2011 auf. Von 2008 auf 2011 aber gab es einen signifikanten Rückgang - und unter Einbezug dieser Zahlen wäre der Befund weit weniger dramatisch ausgefallen.
Im gesamten Zeitraum wäre dann lediglich ein Anstieg der Einsamkeitsquote von 8,6 auf 9,2 Prozent zu verzeichnen - also um rund sieben Prozent des vorherigen Wertes. Und die Quote bei den 75- bis 84-Jährigen sank demnach seit 2008 sogar um rund ein Viertel - von 9,9 auf 7,5 Prozent.
Alter | 2008 | 2011 | 2014 | 2017 |
---|---|---|---|---|
45 bis 54 Jahre | 9,6 | 10,5 | 10,1 | 11,0 |
55 bis 64 Jahre | 8,0 | 8,5 | 10,0 | 8,9 |
65 bis 74 Jahre | 7,2 | 5,1 | 7,0 | 8,1 |
75 bis 84 Jahre | 9,9 | 5,2 | 7,1 | 7,5 |
Gesamt (45 bis 84 Jahre) | 8,6 | 7,9 | 8,9 | 9,2 |
"Ein leicht zu durchschauender Trick"
Tesch-Römer kritisiert, aus der Studie seien gerade jene Schwankungen entnommen worden, mit welchen sich eine angebliche "Einsamkeits-Epidemie" scheinbar belegen lasse. "Es wurde willkürlich der niedrigste Wert - aus dem Jahr 2011 mit 7,9 Prozent - mit dem höchsten Wert - 9,2 Prozent im Jahr 2017 - verglichen", erklärt er. "Und schon ergibt sich eine Zunahme von 16 Prozent." Als "nicht seriös" bemängelt er das Vorgehen. "Ein leicht zu durchschauender Trick. Wer etwas sehen möchte, sieht es selbst dann, wenn es gar nicht vorhanden ist."
Er verweist auf eine Veröffentlichung des DEAS, in welcher das Einsamkeitsrisiko im Verlauf der Jahre 1996 bis 2014 beschrieben wurde. Auch hier habe es in allen Altersgruppen immer wieder Schwankungen gegeben. "Ein klarer Trend ließ sich hier aber lediglich in den beiden ältesten Altersgruppen der 72- bis 77-Jährigen und der 78- bis 83-Jährigen erkennen", sagt er - "und da ging die Einsamkeitsquote runter." Allerdings hätten nahezu keine Heimbewohner befragt werden können.
"Ein großes Gesundheitsproblem"
Dass Meldungen über zunehmende Einsamkeit auf so fruchtbaren Boden fallen, erklärt er sich mit dem Zerfall traditioneller Familienformen. "Das führt zu dem Gefühl, dass soziale Beziehungen zersplittern." Dabei werde aber oft übersehen, dass die heranwachsenden Generationen emotionale Unterstützung immer stärker auch bei Freunden fänden.
Dennoch: Auch wenn die Forscher des Deutschen Zentrums für Altersfragen derzeit keine Zunahme der Einsamkeit erkennen - wie die Entwicklung in Zukunft ist, kann keiner sagen. "Das könnte sich etwa ändern, weil bisher viele Ältere noch Kinder haben", sagt Tesch-Römer. Viele Wissenschaftler warnen jedoch davor, die Gefahr von Alterseinsamkeit zu überschätzen - auch, weil sie fürchten, dass eine solche Angst zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden könnte.
Klar ist - unabhängig von der Quote -, dass Einsamkeit für die Betroffenen gefährlich sein kann. "Wer einsam ist, steht ständig unter Stress", sagt Tesch-Römer. "Das führt dazu, dass das Herz-Kreislauf-System belastet wird." Man schlafe schlechter, erhole sich weniger und sei anfälliger für Krankheiten. "Da reichen auch die acht bis zehn Prozent aus, um zu sagen: Ja, das ist ein großes Gesundheitsproblem", sagt Tesch-Römer. "Aber bitte keine Sensationsmache. Mit Meldungen über eine vermeintliche 'Einsamkeits-Epidemie' bedient man einen medialen Diskus, der nicht wirklich zielführend ist."