Giorgia Meloni (l-r), Justin Trudeau, Fumio Kishida, Rishi Sunak, Charles Michel, Olaf Scholz, Emmanuel Macron, Ursula von der Leyen und Joe Biden beobachten Fallschirmspringer beim Gipfeltreffen der G7-Staaten.
Kontext

Videos über US-Präsident Gesundheitszustand von Biden als Zielscheibe

Stand: 22.06.2024 18:44 Uhr

Bei öffentlichen Auftritten gibt US-Präsident Biden gelegentlich keine allzu gute Figur ab. Im Netz verbreiten sich jedoch oft Videos, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden, um die Thematik zu befeuern - mit System.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

"Unangenehm", "verwirrt", "dement": Mit diesen Schlagwörtern werden im Netz immer wieder neue Videoschnipsel hochgeladen, die die mentale Gesundheit von US-Präsident Joe Biden infrage stellen. Dabei sind einige Darstellungen davon verkürzt oder lassen wichtige Details aus. Allein im Juni gab es etliche solcher Beispiele.

Bei einem Veteranentreffen anlässlich des 80. Jahrestag des D-Day in der französischen Normandie soll ein Video zeigen, wie er sich auf einen unsichtbaren Stuhl setzen wollte. In einem weiteren Video steht Biden zusammen mit den Macrons auf der Bühne und dreht sich offenbar grundlos in die falsche Richtung mit dem Rücken zum Publikum.

Vom G7-Treffen in Italien ging ein Video viral, in dem Biden vermeintlich verwirrt von den anderen Staats- und Regierungschefs davon geht und von der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni für ein Gruppenfoto "eingefangen" wird. Bei einer Spendengala in Los Angeles soll Biden dann auf der Bühne erstarrt und vom ehemaligen Präsidenten Barack Obama weggeführt worden sein.

Was all diese Beispiele gemeinsam haben: Sie sind mindestens irreführend. Denn keiner der behaupteten Vorwürfe trifft für den konkreten Fall zu, die Videos wurden so zusammengeschnitten, dass sie den Eindruck verfälschen.

Alter die "offensichtlichste Angriffsfläche"

So zeigt ein längeres Video der Szene vom Veteranentreffen in Frankreich, dass hinter Biden ein Stuhl stand und er sich wenige Sekunden später darauf setzte. Auch drehte er sich nicht grundlos mit dem Rücken zum Publikum, denn hinter ihm standen einige Veteranen, denen er Tribut zollte.

Ein Video aus einem anderen Winkel vom G7-Treffen zeigt, dass Biden sich nicht einfach verwirrt von den anderen Regierungschefs entfernte, sondern gezielt auf einen Fallschirmspringer zuging, der neben Biden gelandet war. Biden ging zu ihm hin und zeigte einen Daumen nach oben.

Und auch bei der Spendengala zeigt eine längere Version des Videos, dass Biden unter dem Applaus des Publikums beim Abgang von der Bühne zunächst dem Publikum zuwinkt und applaudiert, dann zur anderen Seite des Publikums blickt und etwas länger innehält, ehe Obama zu ihm geht und mit ihm die Bühne verlässt.

"Das Alter von Biden ist die offensichtlichste Angriffsfläche für seine politischen Konkurrenten", sagt Jiore Craig, Resident Senior Fellow beim Institute for Strategic Dialogue (ISD). Mit solchen Zusammenschnitten versuchten sie, den mentalen Gesundheitszustand des 81-jährigen Biden in Zweifel zu ziehen und seine Eignung als US-Präsident infrage zustellen.

Bidens Gesundheitszustand ist Umfragen zufolge auch in der US-Bevölkerung ein großes Thema. So gaben etwa drei Viertel der Befragten an, größere oder kleinere Bedenken hinsichtlich Bidens körperlicher und geistiger Gesundheit zu haben. Bei seinem 78-jährigen Konkurrenten Donald Trump waren es weniger als die Hälfte.

Netzwerk von konservativen Medien

Verbreitet werden diese irreführenden Behauptungen nicht nur von Nutzerinnen und Nutzern in den sozialen Netzwerken, sondern auch von Medien. In den USA gibt es einem Bericht des Medienblogs Popular Information zufolge ein ganzes Netzwerk an lokalen Nachrichten-Websites, die dieses Narrativ über US-Präsident Biden gezielt streuen. In mindestens 86 lokalen Nachrichtenseiten wurde über Bidens vermeintliche Aussetzer berichtet, von den Szenen beim G7-Treffen genauso wie vom Veteranentreffen.

Hinter diesen Nachrichtenseiten steckt das US-amerikanische Medienunternehmen Sinclair Broadcast. Das Unternehmen besitzt oder betreibt insgesamt 193 lokale Fernsehsender und erreicht eigenen Angaben zufolge etwa 40 Prozent der US-amerikanischen Haushalte. Die von Sinclair Broadcast gekauften Sender haben einer Studie zufolge die Berichterstattung über lokale Politik reduziert und die nationale Berichterstattung erhöht und eine deutliche Verschiebung nach rechts in der ideologischen Ausrichtung der Berichterstattung erfahren.

"Die Sendungen haben den Anschein, als seien es lediglich Lokalnachrichten", sagt Craig. "Es fühlt sich nicht so an, als sei es eine kontrollierte Sache. Und das ist ziemlich beängstigend."

Der geschäftsführende Vorsitzende von Sinclair Broadcast, David Smith, gilt als begeisterter Anhänger des ehemaligen US-Präsidenten Trump, der dieses Jahr gegen Biden erneut antreten wird. Bereits in der Vergangenheit nutzte Smith seine Medien dafür, um Trumps Narrative zu verbreiten. So schloss er vor der Wahl 2016 einen Deal mit dem Wahlkampfteam von Trump ab, dass Trump seine Standpunkte unwidersprochen im TV verbreiten darf. Trump wiederum warb unter anderem bei Twitter für Sinclair Broadcast und schrieb, dass die Sender von Sinclair Broadcast gegenüber anderen Sendern wie CNN und NBC überlegen seien.

"Medien dienen als Multiplikatoren von Trump"

Auch die religiöse Rechte hat ein großes Mediennetzwerk in den USA. So gibt es unter anderem die Salem Media Group, ein Medienunternehmen, das mehr als 100 Radiosender besitzt sowie zahlreiche Websites betreibt. Eigenen Angaben zufolge erreicht die Mediengruppe elf Millionen Radiohörer und hat mehr als 150 Millionen monatliche Web- und App-Aufrufe. Die Salem Media Group gilt ebenfalls als Trump-Unterstützer.

"Viele Medien in den USA gehören konservativen Millionären und Milliardären, die ihre Marktmacht nutzen, um politische Propaganda zu verbreiten", sagt Craig. "Deren Medien dienen als Multiplikatoren von Trump und seinem Team." Auch Trump greift Biden vor allem aufgrund seines Alters immer wieder an - nennt ihn beispielsweise "Sleepy Joe" (auf deutsch: Schläfriger Joe). Dabei ist Trump mit seinen 78 Jahren nach Biden der älteste Präsidentenkandidat aller Zeiten in den USA.

Steifer Gang und Stottern

Wie es um Bidens Gesundheit steht, lässt sich aus der Distanz nicht beurteilen. Beim jährlichen Gesundheitscheck im Februar bescheinigte Bidens Leibarzt dem US-Präsidenten, dass er trotz seines hohen Alters bei guter Gesundheit und uneingeschränkt amtsfähig ist. In den USA müssen Präsidenten regelmäßig offenlegen, wie es um ihre Gesundheit bestellt ist. Rechtlich ist das nicht vorgeschrieben, es ist aber zu einer Art Ritual geworden, um das kein Präsident herumkommt.

Aus dem Arztbericht geht unter anderem hervor, dass Biden wegen Verschleißerscheinungen an der Wirbelsäule einen steifen Gang habe. Auch leide er an einer Nervenstörung an den Füßen. Zudem hatte Biden einst bekanntgegeben, dass er seit seiner Kindheit unter Stottern leide. Das zusammen führt nach Ansicht von Craig dazu, dass Biden bei öffentlichen Auftritten manchmal etwas ungelenk wirkt - vor allem bei langen Veranstaltungen gebe es dadurch oft kurze Sequenzen, auf die sich gestürzt werde. In den Videozusammenschnitten würden dann solche Szenen teilweise noch bearbeitet werden, um den Eindruck zu verstärken.

Hinzu kommen Szenen von öffentlichen Auftritten Bidens, die weder manipulierend gekürzt oder bearbeitet wurden, in denen er keine gute Figur abgibt - beispielsweise durch lange Pausen oder eine unverständliche Aussprache.

Trump fordert Drogentest

Das Weiße Haus hat Meldungen über angebliche Aussetzer Bidens vehement dementiert und die Videos in den sozialen Netzwerken stark kritisiert. "Es scheint eine Art Ausschlag von Videos zu geben, die so bearbeitet wurden, dass der Präsident besonders gebrechlich oder geistig verwirrt erscheint", sagte die Pressesprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre.

Für das anstehende TV-Duell Ende Juni zwischen Trump und Biden gibt es bereits eine zweite Erzählweise, die von Trumps Lager verbreitet wird. So forderte Trump einen Drogentest von Biden, nachdem dieser bei seiner Rede zur Lage der Nation im März kein Material für etwaige Videos geliefert hatte. Nach Aussagen von Trump sei das nur durch den Konsum von Aufputschmitteln zu erklären. "Trump wappnet sich damit für den Fall, dass er das TV-Duell verliert", sagt Craig.

Wie viel an dem Narrativ zu dem Gesundheitszustand von Biden dran ist, wird sich beim TV-Duell zeigen. Videos von ihm wird es in den sozialen Netzwerken dann vermutlich ohnehin viele geben.