Wahlbeobachtung "Keine roten Linien, sondern ein großer Graubereich"
Es kommt nicht nur auf den Wahltag an: Im Interview mit tagesschau.de erklärt Wahlbeobachterin Meier, wann eine Abstimmung als frei und unabhängig gilt. Und welche Betrugsmaschen es gibt.
tagesschau.de: Das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) entsendet Personal für Wahlbeobachtungseinsätze der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder auch der Europäischen Union (EU). Wie genau läuft das ab?
Rebecca Meier: Wir als Wahlbeobachterinnen und -beobachter schauen nur in Länder, die uns einladen. Wenn das der Fall ist, schauen wir uns als erstes an, welche Gesetze und Vereinbarungen in dem Land zum Thema Wahlen existieren beziehungsweise unterzeichnet wurden. Dazu zählen beispielsweise auch internationale Vereinbarungen wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen oder der Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Darin finden sich Artikel, die ganz klar die freie Meinungsäußerung und das Recht, sich seine eigene Regierung zu wählen, sichern.
tagesschau.de: Das bedeutet, es gibt keine allgemeingültigen Kriterien, sondern es wird jeder Staat individuell betrachtet?
Meier: Ja und nein. Zum einen wird die Wahl mit den internationalen Standards, zu denen sich das jeweilige Land verpflichtet hat, abgeglichen. Zum anderen wird beobachtet, ob die Wahlgesetze diesen Standards entsprechen und die eigenen Gesetze korrekt umgesetzt werden. Der Wahltag ist dabei nur ein Aspekt der Beobachtung. Der Wahlzyklus enthält viel mehr. Bei Wahlbeobachtung geht es daher auch um Medienfreiheit, der Zugang von Minderheiten und weitere Aspekte. Gibt es eine Atmosphäre der Angst? Gehe ich wirklich freiwillig zum Wahllokal?
Und daher muss man sich jedes Land beziehungsweise jede Wahl einzeln ansehen, weil es sehr schwer zu sagen ist: Hier ist die Grenze und wenn dieser Punkt erfüllt ist, dann ist es keine freie und faire Wahl mehr. Das kann man so eigentlich nicht sagen, sondern man guckt sich ein Gesamtpaket an. Es gibt da keine rote Linie, sondern einen großen Graubereich.
"Wichtig ist das Recht auf Einspruch"
tagesschau.de: In Deutschland sind die Grundsätze der Wahlen im Grundgesetz festgelegt. Sie sollen allgemein, unmittelbar, frei, geheim und gleich sein. Inwiefern deckt sich das mit internationalen Vereinbarungen wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte?
Meier: Es gibt Grundzüge, die bei den meisten Vereinbarungen gleich sind - ob bei der EU oder der Afrikanischen Union zum Beispiel. Dazu gehören Kernaspekte wie freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, das Recht zu wählen und gewählt zu werden oder auch, dass man eine Partei gründen darf.
Wichtig ist auch das Recht auf Einspruch. Also wenn ich merke, an dieser Stelle gab es einen Fehler, dann muss es eine Institution geben, bei der ich mich beschweren kann. In Deutschland wäre das zum Beispiel die Bundeswahlleiterin.
Wenn das alles nicht der Fall ist, wenn es zum Beispiel auch keine freie Presse oder keinen freien Wahlkampf gibt, dann kann man nicht mehr von freien und fairen Wahlen sprechen.
tagesschau.de: Wenn Sie nun in ein Land eingeladen wurden, wie genau begleiten Sie die Wahl?
Meier: Es gibt verschiedene Ebenen, die dabei involviert sind. Zum einen gibt es das Kernteam in der Hauptstadt, das für die Koordination vor Ort zuständig ist. Dann gibt es die sogenannten Langzeitwahlbeobachtende, die bereits Wochen vor der Wahl unter anderem Kontakt mit Wahlbehörden, Parteien und der Zivilgesellschaft aufnehmen. Diese Informationen werden dann beim Kernteam gesammelt.
Unmittelbar vor der Wahl kommen dann noch die Kurzzeitwahlbeobachtenden hinzu, die vor allem für den Ablauf am Wahltag im Einsatz sind. Sie fahren zu verschiedenen Wahllokalen und beobachten dort Eröffnung, Stimmenabgabe und Auszählung. Am Ende werden dann alle gesammelten Einschätzungen und Beobachtungen in einem Abschlussbericht veröffentlicht.
tagesschau.de: Ist vorher bekannt, welche Wahllokale sich die Wahlbeobachter anschauen?
Meier: Nein. Das jeweilige Team entscheidet einen Tag vor der Abstimmung selbst, welche Wahllokale es besuchen wird. Wo wir auftauchen und wo nicht, weiß daher niemand. Allerdings können wir natürlich nur einen Bruchteil der Wahllokale beobachten. Aber es ist auch nicht das Ziel der internationalen Beobachter, in jedem Wahllokal zu sein. Was wir wollen, ist quasi eine Stichprobe rauszuziehen.
"In Russland wurden Neuwagen versteigert"
tagesschau.de: In einigen Ländern wird zum Beispiel mit Gutscheinen geworben, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Ab wann sind solche Aktionen kritisch zu sehen?
Meier: In einigen Staaten sind Wahlen ein Fest der Demokratie. Es gibt die Tradition von Livekonzerten und dass man sich draußen trifft nach der Stimmenabgabe. Das ist erst einmal etwas Schönes.
Kritisch wird es dann, wenn strategisch versucht wird, die Wahlbeteiligung hoch zu halten, um einfach auch ein Signal zu senden, ein Signal der Unterstützung für die aktuelle Regierung. Das war in Russland zum Beispiel der Fall.
Als ich 2018 als Wahlbeobachterin in Russland war, ist zum Beispiel eine nicht geringe Anzahl von Neuwagen versteigert worden. Es gab eine Tombola und um teilzunehmen, hat man sich vor dem Wahllokal unter einem Slogan fotografiert.
tagesschau.de: Es kommt also wieder auf den Einzelfall an?
Meier: Genau, es ist ein Graubereich. Es gibt zum Beispiel in den USA auch große Organisationen, die versuchen, junge Menschen, Latinos oder zum Beispiel Afroamerikaner zum Wählen zu motivieren. Die machen dies natürlich mit einem anderen Hintergrund. Ich glaube, hier muss man immer genau schauen, wer macht das, wie machen sie das und worum geht es. Gibt es da beispielsweise auch gleich eine Wahlempfehlung?
tagesschau.de: In einigen Ländern werden zu Wahlen keine unabhängigen Wahlbeobachterorganisationen eingeladen, dafür aber gezielt zum Beispiel Politiker aus bestimmten Ländern und Parteien - in Russland beispielsweise Abgeordnete der AfD. Wie ist so etwas einzuschätzen?
Meier: Das große Problem ist, dass nicht alle Journalisten sich umfangreich informieren. Das heißt, viele übernehmen die Schlagzeile: Internationale Wahlbeobachter waren anwesend. Und das stimmt in gewisser Weise natürlich auch. Es gab internationale Personen, die dort waren, beobachtet und eine Erklärung abgegeben haben. Aber diese Personen wurden mit einem ganz klaren politischen Anliegen und Hintergrund eingeladen.
Das ist ein ganz großer Unterschied zu den Wahlbeobachterinnen und -beobachtern des ZiFs. Unsere Wahlbeobachter arbeiten mit internationalem Mandat - sind also Vertreter der internationalen Gemeinschaft. Sie beobachten nach einer anspruchsvollen, jahrelang entwickelten Methodik, werden umfangreich ausgebildet, und ausschließlich durch das ZIF finanziert. Und somit nicht durch den einladenden Staat.
"Immenser Druck, gewünschte Ergebnisse zu liefern"
tagesschau.de: Haben Sie schon mal direkten Wahlbetrug mitbekommen?
Meier: Der Bericht der OSZE in Usbekistan war da sehr deutlich und ich kann diesen bestätigen. Es gab Fälle von sogenanntem ballot box stuffing - also dass die Urne mit gefälschten Wahlzetteln gefüllt wird oder vorab wurde -, dass konnte ich bei der Auszählung beobachten.
tagesschau.de: Wie kann es sein, dass so etwas vor Wahlbeobachtern gemacht wird?
Meier: Zum einen ist das mit Sicherheit Unwissenheit. Und zum anderen gibt es in einigen Ländern auch einen immensen Druck, die gewünschten Ergebnisse zu liefern. Da gibt es vermutlich Vorgaben für eine Region, dass ein gewisser Anteil der Wahlberechtigten erscheinen muss. Und dann fragt sich der Wahlhelfer vor Ort sicherlich, was in dem Moment für ihn wichtiger ist: Die internationalen Beobachtenden, die irgendetwas schreiben oder mein Nachbar, vielleicht mein Vermieter oder mein Arbeitgeber, der mir jetzt am Tisch gegenüber sitzt.
tagesschau.de: Was gibt es noch so für Betrugsmaschen bei Wahlen?
Meier: Ein klassisches Beispiel wären die Wählerlisten. Dort könnten sich noch zahlreiche Leute finden, die bereits verstorben sind, aber trotzdem noch wählen dürfen. Oder man sieht auf jeder Seite gleiche Unterschriften. Oder dass wie in Russland aussichtsreiche Kandidaten aus fadenscheinigen Gründen von der Wahl ausgeschlossen werden. Und auch die Regeln, wer überhaupt kandidieren darf bei einer Wahl, können so stark eingeschränkt werden, dass nur wenige Personen infrage kommen, die diese Kriterien erfüllen.
"Die Grundlage von allem ist Vertrauen"
tagesschau.de: Viel diskutiert wird ja auch immer über die Manipulationsgefahr bei elektronischen Wahlgeräten. Erschwert das Ihren Beruf?
Meier: Eine elektronische Stimmabgabe muss nicht per se etwas schlechtes sein. In einigen Ländern wie Estland zum Beispiel ist die Internetwahl weit verbreitet. Solche Systeme sind natürlich erst einmal für normale Wahlbeobachtende schwer zu überprüfen. Daher gibt es Experten, die sich die Server genauer anschauen und eine professionelle Einschätzung dazu abgeben können.
Aber da es für viele Menschen sehr komplex ist, ist es auch ein einfaches Angriffsziel für Populisten. Die können dann einfach behaupten, dass diese Systeme nicht kontrolliert werden könnten und dass sie manipuliert worden seien. Das haben wir unter anderem bereits bei Donald Trump in den USA oder Jair Bolsonaro in Brasilien gesehen, also auch in gefestigten Demokratien.
In einigen Ländern des Balkans ist es zum Beispiel andersherum. Dort gibt es viele Bürgerinnen und Bürger, die sagen, wir vertrauen den Menschen nicht, wir wollen mehr elektronische Abstimmungsmöglichkeiten, weil wir da sehen, dass es funktioniert.
Das heißt, ich würde nicht immer sagen, Technik ist schlecht, sondern die Frage ist eher, wie wird Technik benutzt, welche Technik wird benutzt und wie gut werden die Wähler darüber informiert?
tagesschau.de: Sie haben Populisten wie Trump oder Bolsonaro bereits angesprochen. Aus diesen Lagern sind schnell Vorwürfe von angeblicher Wahlmanipulation bei unerwünschten Ergebnissen zu vernehmen. Hat das Auswirkungen auf Ihre Arbeit?
Meier: Was man sich bei Wahlen bewusst machen muss: Die Grundlage von allem ist Vertrauen. In Schweden drucken sie vielfach so viele Stimmzettel aus wie es Wahlberechtigte gibt. Die liegen dann unter anderem in Postfilialen oder im Supermarkt und jeder kann sie sich mitnehmen. Die Idee dahinter ist, dass man sich frühzeitig informieren kann. Eigentlich müsste man sich darüber die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, denn das ist sensibles Material. Aber in Schweden gibt es dieses wahnsinnige Vertrauen in das System, was wir zum Glück in Deutschland bis zu einem gewissen Grad auch noch haben.
Doch wenn das einmal weg ist, dann ist es total schwer, das wieder aufzubauen. Und deswegen kann man auch nur vor Initiativen oder Parteien warnen, die immer wieder Wahlen infrage stellen und das System anzweifeln. Ich sage nicht, dass das System fehlerfrei ist, aber grundsätzlich funktioniert es. Das muss man betonen. Denn wenn das Vertrauen einmal weg ist, dann haben Populisten leichtes Spiel.
Das Gespräch führte Pascal Siggelkow, tagesschau.de