Ukrainische Soldaten tragen in der Region Charkiw Säcke mit den Leichen gefallener Soldaten.
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Krieg gegen die Ukraine Angaben zu Verlusten "gänzlich unglaubwürdig"

Stand: 14.02.2023 03:42 Uhr

Eine Grafik in den Sozialen Netzwerken listet die vermeintlichen Verluste der russischen und der ukrainischen Armee auf - und zeichnet vor allem für die Ukraine ein verheerendes Bild. Doch Experten halten die Zahlen für wenig glaubwürdig.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

"Russland: 18.480 Tote - Ukraine: 157.000 Tote; Russland: 44.500 Verletzte - Ukraine: 234.000 Verletzte." Diese Zahlen sollen die Verluste Russlands und der Ukraine infolge der russischen Invasion darstellen. Die Grafik, die derzeit in den Sozialen Netzwerken kursiert, wird dabei oft versehen mit Sätzen wie "Ukraine blutet förmlich aus" und soll die militärische Überlegenheit Russlands in dem Krieg widerspiegeln.

Dabei ist die Grafik nach Ansicht von Gustav Gressel, Senior Policy Fellow beim European Council On Foreign Affairs (ECFR), "gänzlich unglaubwürdig". "Die russischen Verluste sind nachweisbar weit höher, als dort angegeben." Die niederländische Open-Source-Intelligence-Website (OSINT) Oryx listet allein fotografische Belege für den Verlust von mehr als 3500 Kampf- und Schützenpanzern auf russischer Seite auf - wohingegen die zitierte Grafik auf lediglich 889 kommt.

Tweet des Accounts Andyfragt

Zudem würde die Grafik die ukrainischen Verluste um ein Vielfaches überzeichnen, sagt Gressel. Die ukrainische Luftwaffe würde beispielsweise nicht annähernd über 302 Flugzeuge zu Beginn der russischen Invasion verfügt haben - die auf der Grafik angegebenen Verluste seien somit höher als der eigentliche Bestand. Die von der Grafik suggerierte Unterlegenheit der ukrainischen Armee würde nicht der Realität entsprechen. Zum Vergleich: Oryx listet lediglich 57 verlorene Flugzeuge für die Ukraine auf.

"Bei den in der Grafik angegebenen Verlusten wäre den ukrainischen Streitkräften wohl weder die Verteidigung Kiews, noch die Befreiung Charkiws und Chersons, noch das weitgehende Halten der Linien im Donbass gelungen, während gleichzeitig immer mehr logistisch komplexe Waffensysteme aus westlicher Produktion eingeführt und mit großer Wirkung eingesetzt wurden und werden", sagt Gressel. Der Zweck der Grafik sei Propaganda.

Türkische Nachrichtenseite verbreitete Zahlen

Die Zahlen der Grafik stammen offenbar von der türkischen Online-Nachrichtenseite "Hürseda Haber". In der dortigen Auflistung der vermeintlichen Verluste heißt es, es handele sich "angeblich" um "Felddaten vom 14. Januar 2023, basierend auf israelischen Geheimdiensten".

Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit sorgte der Bericht von "Hürseda Haber" für Aufsehen - vor allem in den Sozialen Netzwerken. Eine US-amerikanische YouTuberin mit mehr als 500.000 Abonnenten veröffentlichte beispielsweise ein Video dazu mit dem Titel "Der Mossad gibt die ECHTEN Opferzahlen aus der Ukraine und Russland preis. Es ist düster für die Ukraine".

Verschiedene Angaben im Umlauf

Doch zu den mutmaßlichen Verlusten der beiden Kriegsparteien gibt es viele verschiedene Schätzungen. Russland und die Ukraine teilen jeweils in regelmäßigen Briefings die angeblichen Verluste der gegnerischen Seite mit. Allerdings bezieht sich Russland meistens auf Kriegsgeräte und nicht auf getötete Soldaten. Die Zahlen gehen dabei erwartungsgemäß weit auseinander. Zu den eigenen Verlusten wiederum machen beide Seiten nur selten Angaben.

Laut des ukrainischen Verteidigungsministeriums sind mehr als 135.000 russische Soldaten bis Anfang Februar im Krieg gestorben. Bis September waren es laut Russland hingegen lediglich knapp 6000 Verluste auf der eigenen Seite. Im selben Zeitraum sind nach russischen Angaben etwa 61.000 ukrainische Soldaten gestorben, die Ukraine hatte hingegen die Zahl im Dezember mit "bis zu 13.000" angegeben.

Konfliktparteien als Quelle
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.

Auch aus anderen Ländern wurden Schätzungen zu den mutmaßlichen Verlusten beider Seiten bekannt. Im Januar gab der norwegische Verteidigungschef Eirik Kristoffersen die Zahl der verwundeten oder getöteten russischen Soldaten mit rund 180.000 an, die der ukrainischen Seite mit "wahrscheinlich" mehr als 100.000.

Vergleiche zwischen den verschiedenen Angaben sind allein schon deshalb schwer möglich, weil manchmal zwischen Toten und Verwundeten unterschieden wird, manchmal jedoch nicht.

"Genaue Bezifferung der Verluste nicht möglich"

Nach Angaben von Rafael Loss, Koordinator für paneuropäische Datenprojekte am ECFR, ist es "nahezu unmöglich, Verluste an Mensch und Material in einem laufenden Krieg zweifelsfrei nachzuverfolgen". OSINT-Webseiten wie Oryx hätten jedoch Leitlinien und Verhaltenskodexe entwickelt, um Annahmen und Schlussfolgerungen möglichst nachvollziehbar und überprüfbar zu machen. "Bei guter OSINT fließt in die Beweisführung zum Beispiel viel Aufwand", sagt Loss. Allerdings werden bei Oryx keine Angaben zu verwundeten oder toten Soldaten gemacht.

Insgesamt sei mehr über Russlands Verluste bekannt als über die der Ukraine, sagt Loss. Das liege auch daran, "dass die russischen Streitkräfte und ihre Aktivitäten Aufklärungsziel westlicher Nachrichtendienste sind".

Michael Zinkanell, zukünftiger Direktor des Austria Instituts für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES), mahnt jedoch zu genereller Vorsicht an. "Abgesehen von dem individuellen Bias jeder einzelnen Quelle die Interpretation der Daten betreffend - das gilt auch für die offizieller ukrainischer Daten zu den Verlusten - ist es meiner Ansicht nach aufgrund der Verworrenheit der Ereignisse vor Ort nicht möglich, seriöse Daten zu erheben." Damit könne die Frage nach der Plausibilität nur hypothetisch beantwortet werden.

"Somit ist die genaue Bezifferung der Verluste - personell und materiell - auf beiden Seiten nicht möglich", sagt Zinkanell. Es sei kaum bis gar nicht möglich, diese Informationen auf verlässliche Art und Weise zu erhalten, da es deutliche Intentionen gebe, potenziell gefährliche Desinformation zu diesem Thema zu verbreiten.

"Verteidigungskampf soll aussichtslos dargestellt werden"

Dennoch kommentierte auch Twitter-Chef Elon Musk auf seiner Plattform die Zahlen mit den Worten: "Ein tragischer Verlust an Menschenleben". Nach Angaben von Twitter wurde der Tweet alleine mehr als 17,5 Millionen Mal angezeigt.

Tweet von Elon Musk

Loss kritisiert Musks Tweet zur Grafik: "Er wirkt hier, wie schon in anderen Fällen zuvor, als Aufmerksamkeitsmultiplikator für Desinformation." Denn das Ziel solcher Grafiken mit falschen Verlustangaben sei es, "die internationale Unterstützung für die Ukraine zu unterminieren", sagt Loss. "Ihr Verteidigungskampf soll als aussichtslos dargestellt werden."

Sara Bundtzen, Research and Policy Analyst beim ISD Germany, sieht die Grafik ebenfalls als Beispiel prorussischer Propaganda. Die Intention dieser falschen Infografik richte sich gegen westliche Waffenlieferungen und befeuere zudem Ängste in der Bevölkerung. "Die Erstellung von falschen Infografiken hilft grundsätzlich bei der Veranschaulichung von Behauptungen. Zudem verbreiten sie sich oft schnell über verschiedene Kanäle und Netzwerke."

Bei den prorussischen Akteuren, die solche irreführenden Inhalte zum Krieg verbreiten würden, handele es sich oft um Accounts mit hohen Followerzahlen, die jedoch nicht unter direkter Kontrolle des Kremls stünden, sondern aufgrund eigener Interessen wie mehr Aufmerksamkeit und Monetarisierung derartige Propaganda verbreiteten.

Seitdem Musk Twitter übernommen habe, sei zudem zu beobachten, dass die Accounts solcher prorussischen Akteure immer öfter auch einen Blauen Haken besäßen, welcher als Verifikation, aber auch als Statussymbol auf Twitter gelte. "Dies kann wiederum den Eindruck erwecken, dass es sich hier um eine seriöse Quelle handelt." Zudem würde Musk deutlich häufiger mit solchen Accounts interagieren als noch vor seiner Übernahme des Unternehmens, so dass deren Reichweite zunehme.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 02. Januar 2023 um 20:00 Uhr.