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Ausrufung der Republik Die nachgestellte Proklamation

Stand: 09.11.2018 05:39 Uhr

Vor 100 Jahren rief der SPD-Politiker Scheidemann in Berlin die Republik aus. Ein historischer Moment, der allerdings nicht filmisch festgehalten wurde. Alle bekannten Aufnahmen wurden nachgestellt.

Von Patrick Gensing, ARD-faktenfinder

Der 9. November 1918 war ein historischer Tag: Sowohl der Kommunist Karl Liebknecht als auch der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann riefen in Berlin die Republik aus. Die Proklamation Scheidemanns führte dazu, dass das Deutsche Reich von einer Monarchie zu einer parlamentarisch-demokratischen Republik wurde.

Der Bundestag gedenkt am 9. November des "Schicksalstags der Deutschen", viele Medien berichten über den Jahrestag. Für die öffentliche Erinnerung spielen dabei Aufnahmen von Scheidemann bei der Proklamation eine große Rolle. Was allerdings oft nicht deutlich wird: Diese Aufnahmen stammen gar nicht vom 9. November 1918, sondern wurden nachgestellt.

Die problematische Überlieferung führe dazu, schreibt der Wissenschaftliche Dienst weiter, dass bei nüchterner Betrachtung auch heute ein halbwegs einheitliches und stimmiges Bild über Scheidemanns Auftritt nicht vorliegt.

Das Bundesarchiv betont, bei einer Filmaufnahme von Scheidemann handele es sich um ein nicht-datiertes Sujet aus einer Wochenschau. Die Aufnahme sei nicht am 9. November 1918 entstanden, sondern zu einem späteren Zeitpunkt aufgenommen worden, vermutlich als nachgestellte Redesituation. Auch ein Foto von Scheidemann stehend in einem Fenster sei vermutlich an dem Tag der Dreharbeiten entstanden.

Historiker diskutieren auch darüber, was Scheidemann in seiner Rede tatsächlich gesagt habe. Denn die Quellen dazu sind widersprüchlich. Scheidemann selbst veröffentlichte 1920 ein Manuskript seiner Rede, die er später auf einer Schallplatte einsprach. Diese Version unterscheidet sich allerdings stark von schriftlichen Berichten über die Proklamation - beispielsweise in der Abendausgabe der "Vossischen Zeitung" vom 9. November 1918.

"Wirkliche Abläufe verschleiert"

Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags fasste den Stand der Forschung im September zusammen und bilanzierte:

Die Überlieferung von Scheidemanns Auftritt am 9. November 1918 ist insgesamt als "schwierig" zu charakterisieren. Die wenigen zeitgenössischen Quellen, die über Scheidemanns Rede berichten, weichen in wesentlichen Punkten voneinander ab oder stehen sogar zueinander im Widerspruch. Auch die verschiedenen im Nachhinein verfertigten Berichte der beteiligten Akteure, insbesondere von Scheidemann selbst, haben eher dazu beigetragen, den wirklichen Ablauf der Ereignisse zu verschleiern. Dies dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass diese Berichte auch mit der Absicht verfasst wurden, die Ereignisse für die öffentlichen Debatte oder die Nachwelt in die "richtige" Richtung zu rücken.

Es sei festzuhalten, dass es kein authentisches Bildmaterial von Scheidemanns Auftritt gibt. Die überlieferten Fotografien und Zeichnungen seien alle im Nachhinein erstellt beziehungsweise nachgestellt worden. Damit sollte eine bestimmte Sicht der revolutionären Ereignisse für die erinnerungskulturelle Debatte bildlich unterfüttert werden.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 09. November 2018 um 06:00 Uhr.