Demoskopie-Kritik Was können Umfragen - und was nicht?
Kurz vor der Landtagswahl sagte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, sie glaube keinen Umfragen mehr. ARD-Wahlexperte Jörg Schönenborn wünscht sich mehr Gelassenheit.
Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten: Kaum war der aktuelle ARD-Deutschlandtrend veröffentlicht, machten schon die Ersten ihrem Unmut bei Facebook Luft. "Last es doch mal sein... eeewwig diese volksverblödenen Scheinumfragen..." (Fehler im Original) schrieb eine Userin, ein anderer: "Typisch Fake News vom Staatsfernsehen, nicht anders zu erwarten im Wahljahr!"
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft äußerte sich am Freitag im ZDF zwar weniger drastisch, in der Tendenz aber ähnlich. Angesprochen auf sinkende SPD-Werte sagte die Politikerin, sie glaube keinen Umfragen mehr. Die Differenz zwischen Umfragen und tatsächlichen Ergebnissen zeigten, dass es da "keine Sicherheit" mehr gebe. ARD-faktenfinder sprach mit dem ARD-Wahlexperten Jörg Schönenborn über die Kritik an den Demoskopen und wie ihr am besten zu begegnen ist.
"Wir suchen alle Orientierung"
ARD-faktenfinder: Herr Schönenborn, Fundamentalkritik aus den sozialen Netzwerken an Wahlumfragen dürften Sie inzwischen gewohnt sein. Überrascht Sie eine solche Aussage aus dem Mund einer Spitzenpolitikerin?
Seit Jahren der ARD-Experte für Umfragen: Jörg Schönenborn.
Jörg Schönenborn: Nein, das höre ich von Kandidatinnen und Kandidaten seit vielen Jahren, Umfragen sind aber keine Glaubensfrage. Sondern Umfragen sind ein ziemlich genaues Stimmungsbild zum Zeitpunkt der Befragung. Natürlich gibt's da normale statistische Abweichungen, aber im Kern bedeutet es eben nicht, dass das eine Vorhersage für den Wahltag ist, überhaupt nicht.
ARD-faktenfinder: Wo sehen Sie die Hauptursachen für das Misstrauen, das Wahlumfragen seit einiger Zeit entgegengebracht wird?
Schönenborn: Nach meiner Überzeugung hat das viel mit eigener Enttäuschung zu tun. Denn die gleichen Menschen - oder auch Kolleginnen und Kollegen - die Umfragen kritisieren, nehmen doch sehr leichtfertig die nächste Umfrage wieder und behandeln sie als absolut sichere Fakten. Wir suchen alle Orientierung, ob es um den Brexit geht oder um Trump oder auch eine Landtagswahl, deswegen gucken wir natürlich alle interessiert auf die Umfragen. Zahlen lösen leicht die Illusion aus, dass da mehr dahinterstecke, als sie behaupten. Wenn's dann am Ende anders kommt, ist auch die eigene Enttäuschung groß, und dann sucht man jemanden, auf den man es schieben kann. Das ist dann eher ein psychologischer als ein rationaler Prozess.
ARD-faktenfinder: Welche Maßnahmen sind in Ihren Augen am besten geeignet, um das Vertrauen in die Demoskopie wieder herzustellen?
Schönenborn: Ach, ich würde gar nicht sagen, dass es darum geht, Vertrauen wiederherzustellen. Sondern es geht darum, deutlich zu machen, was Umfragen können und was nicht. Das versuchen wir auch immer wieder zu erklären. Umfragen liefern ein hervorragendes Meinungsbild über Kandidaten, über Themen, über wichtige Fragen des Wahlkampfes; darüber, ob eine Koalition beliebt oder eher abschreckend ist. Da kommt's dann auch nicht drauf an, ob der Wert tatsächlich zwei Punkte höher oder niedriger ist. Das ist ein tolles Instrument zur politischen Stimmungsmessung. Und auch die Werte der Sonntagsfrage sind geeignet, Trends anzuzeigen. Geht's aufwärts oder abwärts mit einer Partei? Mehr darf man nicht versprechen, Punkt! Deshalb machen wir in den Tagesthemen auch immer diesen dicken Stempel auf die Sonntagsfragen-Grafik, wo draufsteht: "Keine Prognose!"
"Der Methodik mehr Aufmerksamkeit schenken"
ARD-faktenfinder: Ein Grund, warum Ergebnisse oft verkürzt wahrgenommen werden, ist das Nutzerverhalten in den sozialen Netzwerken. Bei Facebook und Twitter verbreiten sich schnell konsumierbare, möglichst emotionale Headlines häufig am besten – und dort wird auch schnell fundamentale Kritik geübt. Lesen Sie diese Diskussionen mit?
Schönenborn: Ich schau gelegentlich rein. Aber es ist ja eine Diskussion, die sich selber nährt. Wir werden nicht lange brauchen, um nach den Wahlen wieder Artikel zu finden, wo die Umfragen für die nächste Bundestagswahl mit großen Schlagzeilen verkauft werden, so als sei das Meinungsforschungsinstitut dasjenige, das die Wahl entscheidet und nicht die Wählerinnen und Wähler. Meine Wahrnehmung ist: Ja, es gibt Menschen, die sich da getäuscht fühlen und sich auch drüber aufregen, aber ich halte das doch für eine überschaubare Minderheit.
ARD-faktenfinder: In den USA gibt es für die Umfrageinstitute ein Rating-System, mit dem Fachleute die Arbeit der Demoskopen bewerten - von A plus bis C minus. Könnten Sie sich ein solches System auch für den deutschen Markt vorstellen?
Schönenborn: Ich fänd's klasse, wenn man allein der Methodik mehr Aufmerksamkeit schenken würde. Wenn man einfach klar unterscheiden würde zwischen Telefon- und Internetumfragen, zwischen solchen, die konzentriert an zwei, drei Tagen durchgeführt werden und solchen, die über Wochen geöffnet sind und die man über Wochen klicken kann. Was ich mir wünsche, ist ein bisschen Grundverständnis dafür, dass man Umfragen sehr wissenschaftlich, sehr klug, sehr methodisch ausgefeilt machen kann, aber eben auch sehr schlicht, und damit auch sehr irreführend.
"Natürlich beeinflussen Umfragen Wahlergebisse"
ARD-faktenfinder: Wie hoch schätzen Sie den Einfluss von Umfrageergebnissen auf das Wählerverhalten ein?
Schönenborn: Je größer die Unsicherheit der Wähler ist, desto mehr orientieren sie sich an Umfragen. Das wird man nie beweisen können, weil man nicht wieder eine Mauer durch dieses Land ziehen will und auf der einen Seite informiert man, auf der anderen nicht. Das wäre ja die einzige Möglkichkeit, das zu beweisen. Aber es gibt Fälle, bei denen das sehr naheliegt. Bei der Landtagswahl in Niedersachsen Anfang 2013 kam die FDP über Weihnachten von ganz geringen Werten, zwei, drei, vier Prozent. Die letzten veröffentlichten Umfragen hatten sie dann so bei fünf, und es gab ganz viele Menschen, die unbedingt die FDP im Landtag wollten, um den CDU-Ministerpräsidenten McAllister zu stützen.
So sind in den letzten Tagen viele tausend CDU-Wähler nur deshalb zur FDP gegangen. Das haben sie auf der Basis von Umfragen getan. Wenn die FDP damals in Umfragen bei sieben gewesen wäre, hätte sie kein Wahlergebnis von fast zehn zum Schluss gehabt. Natürlich beeinflussen Umfragen Wahlergebisse. Das ist auch nichts Schlimmes und Verwerfliches, weil jeder ja die Entscheidung für sich alleine trifft. Aber deswegen ist es gute Kultur in der ARD, dass wir in der letzten Woche vor der Wahl keine neuen Umfragen veröffentlichen.
Das Interview führte Matthias Vorndran, MDR