Grenze zu Ungarn Flüchtlingsandrang wie 2015?
Der "Migrationsdruck" an der ungarischen Grenze sei vergleichbar mit dem Sommer 2015. Das meint Ex-Verfassungsschutzchef Maaßen. Dabei ist die Lage nicht vergleichbar.
Von Srdjan Govedarica und Andrea Beer, ARD-Studio Südosteuropa
Im November 2018 musste Hans-Georg Maaßen als Präsident des Bundesverfassungsschutzes seinen Hut nehmen. Er hatte in der SPD linksradikale Kräfte gesehen und den Aufmarsch von Neonazis im August 2018 in Chemnitz nicht als "Hetzjagd" verurteilt, sondern Zweifel an der Echtheit eines authentischen Videos geäußert, das rassistisch motivierte Ausschreitungen zeigte. Zuvor war ein 35 Jahre alter Mann getötet worden. Zwei Asylbewerber wurden festgenommen.
Auf Twitter äußert sich Maaßen regelmäßig zu den Themen Flucht und Migration. Dies sind auch Leib- und Magenthemen des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban, der zu Gesprächen nach Berlin kam, unter anderem mit Bundeskanzlerin Angela Merkel: Anlass für einen Tweet von Maaßen über die Situation an der serbisch-ungarischen Grenze.
Vergleichbar mit 2015?
Der Migrationsdruck an der ungarischen Grenze sei vergleichbar mit dem Sommer 2015, schreibt Maaßen auf Twitter. Er hoffe, dass die Bundeskanzlerin dem ungarischen Präsidenten Orban (sic! Orban ist Ministerpräsident) für den Grenzschutz danken und ihm Unterstützung zusagen wird, schreibt Maaßen weiter.
Doch worauf stützt sich die Behauptung Maaßens, dass die aktuelle Situation an Ungarns Südgrenze mit 2015 vergleichbar sei? Als Beleg verlinkt Maaßen ein Video des ungarischen öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders M1, der als Staatsfernsehen wahrgenommen werden kann. Es geht um die Situation am serbisch-ungarischen Grenzübergang "Klebija-Tompa".
Demonstration von Flüchtenden und Migranten
An dem Grenzübergang versammelten sich am vergangenen Donnerstag rund 200 Flüchtende und Migranten. Sie hielten Transparente in die Höhe und forderten die ungarischen Behörden dazu auf, sie in Richtung Westeuropa weiterziehen zu lassen. Es kam weder zur Gewalt, noch gab es Verletzte oder Verhaftungen. Nach wenigen Stunden wurden die Demonstration aufgelöst und die Menschen mit Bussen wieder in serbische Aufnahmeeinrichtungen zurückgebracht. Das ungarische Fernsehen drehte zwei Tage später, als nur noch knapp 30 Menschen am Grenzübergang standen.
Sowohl im Jahr 2015 als auch in den Jahren danach berichtete die ARD regelmäßig von vor Ort. Auch am 7. Februar 2020 war ein Team des ARD-Studios Südosteuropa an der serbisch-ungarischen Grenze und konnte die Situation mit dem Jahr 2015 vergleichen. Damals kam es am nahegelegenen Grenzübergang Horgos-Röszke zu Gewalt und Tränengaseinsätzen seitens der Polizei.
Behauptung taucht in Video nicht auf
Anders als es Maaßen glauben machen möchte, kommt in dem Beitrag des ungarischen Staatsfernsehens die Behauptung nicht vor, der aktuelle "Migrationsdruck" an der ungarischen Grenze sei mit der Flüchtlingsbewegung im Sommer 2015 vergleichbar. Stattdessen berichten Flüchtende und Migranten in dem Beitrag, sie hätten Informationen bekommen, dass die Grenze nach Ungarn für sie geöffnet sei.
Daraufhin warnte im Beitrag der regierungsnahe Sicherheitsexperte József Horváth, man habe 2015 gesehen, dass die Lage eskalieren könne, wenn Menschen glauben, eine in Wahrheit geschlossene Grenze sei offen. Zudem kam György Bakondi, Berater des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban, in dem Beitrag zu Wort.
Bakondi spricht davon, dass die Flüchtenden und Migranten an der ungarisch-serbischen Grenze angestiftet worden seien, um "politischen Druck zu machen". Und zwar von Organisationen, die dem ungarnstämmigen Amerikaner und Milliardär George Soros gehören. Die Stiftung von Soros unterstützt seit Jahrzehnten die Zivilgesellschaft in Mittelost- und Südosteuropa, auch in Ungarn. Und Orban hat den Holocaustüberlebenden Soros schon vor Jahren zu seinem Intimfeind erklärt und unterstellt diesem regelmäßig, illegale (muslimische) Migration nach Europa zu organisieren.
Zahlen zeigen: 2015 und 2020 sind nicht vergleichbar
Noch immer sind Menschen auf der "Balkanroute" unterwegs, auch in Serbien. Doch die aktuelle Situation dort lässt sich nicht mit der Flüchtlingsbewegung im Sommer und Herbst 2015 vergleichen. Das zeigen die Zahlen. 2015 kam rund eine Million Menschen durch Serbien. Nach Angaben des Kommissariats für Flüchtende der Republik Serbien sind derzeit genau 5697 Flüchtende und Migranten in insgesamt 17 Aufnahmeeinrichtungen registriert (Stand 10.02.2020). Die Behörde in Belgrad geht außerdem davon aus, dass sich zurzeit rund 800 weitere Flüchtende und Migranten in Serbien aufhalten.
Das seien zwar mehr als 2019, aber auch damals seien nie mehr als 4000 Menschen im Land registriert gewesen und von den Zahlen des Jahres 2015 sei man weit entfernt. Ein Beispiel: Allein am 25. Oktober 2015 kamen nach Angaben des serbischen Innenministeriums rund 9200 Menschen in der südserbischen Stadt Presevo an.
"Balkanroute" führt nicht mehr durch Ungarn
Hinzu kommt, dass der Weg nach Westen seit mehr als zwei Jahren nicht mehr über Ungarn führt. Die meisten Menschen machen sich aus Serbien in den Nordwesten Bosniens und Herzegowinas auf, um von dort Kroatien und damit die EU zu erreichen. Einige versuchen es auch direkt über die serbisch-kroatische Grenze. Viele werden von der kroatischen Grenzpolizei aufgegriffen und teilweise gewaltsam wieder nach Bosnien und Herzegowina beziehungsweise Serbien zurückgeschickt.
Weil die humanitäre Lage im Nordwesten Bosniens und Herzegowinas für Flüchtende und Migranten gerade in den kalten Wintermonaten schlechter wurde, überwintern viele Menschen in Serbien und warten auf eine aus ihrer Sicht bessere Gelegenheit, in Richtung Bosnien und Herzegowina aufzubrechen. Einige versuchen offenbar auch weiter, über die hermetisch abgeriegelte Grenze nach Ungarn zu kommen.
Die ungarische Polizei gibt an, am vergangenen Wochenende 165 "Migranten" am illegalen Grenzübertritt gehindert zu haben. Ende Januar versuchten etwa 50 Menschen, den über Nacht geschlossenen Grenzübergang Röszke zu überwinden. Einer der privaten Sicherheitsleute, die den Übergang außerhalb der Öffnungszeiten bewachen, gab daraufhin Warnschüsse ab. Vier Menschen gelangten dennoch nach Ungarn. Sie wurden wenig später von der Polizei festgenommen.
Fazit: Die Situation heute unterscheidet sich stark von der Situation 2015. Hans-Georg Maaßen zieht in seinem Tweet einen Vergleich, der sich nicht halten lässt.