Rechtsstaatlichkeit Wie demokratisch sind die USA noch?
Ein Präsident, der in der Krise wie ein autoritärer Herrscher handelt; Protestbewegungen, die dem Staat nicht trauen: Wie demokratisch sind die USA noch?
US-Militär auf den Stufen des Lincoln Memorial in Washington, Zaunreihen gegen Demonstranten vor dem Weißen Haus, Helikopter über den Demonstranten und Sicherheitsbeamte in Uniformen ohne Erkennungszeichen. US-Journalisten und -Experten erinnern die Szenen in ihrem eigenen Land an Krisen in autoritär geführten Staaten.
Zäune zum Schutz vor Demonstranten erinnern Beobachter an Proteste in autoritär geführten Ländern.
Der Anfang vom Ende der Demokratie?
John Allen, pensionierter Viersterne-General und Chef der Denkfabrik Brookings Institution, warnt im Magazin "Foreign Policy" sogar vor einem Ende der Demokratie in den USA.
Ex-Verteidigungsminister James Mattis warf Donald Trump vor, seine Amtsvollmachten zu missbrauchen und dem US-Militär befohlen zu haben, die verfassungsgemäßen Rechte der Bürger zu verletzen. Andere Militärs und ehemalige Staatsbedienstete äußerten ähnliche Bedenken.
Angesichts von Trumps Bürgerkriegsrhetorik und seinem Gerede von gefälschten Wahlergebnissen sorgen sich viele darum, was geschieht, sollte Trump die Präsidentschaftswahl im November nicht gewinnen.
Wie steht es um die Demokratie in Amerika?
Die derzeitige Protestwelle zeigt Misstrauen in die staatlichen Institutionen und Unzufriedenheit mit der Demokratie. Umfragen des Zentrums für die Zukunft der Demokratie an der Cambridge University zeigen, dass diese Unzufriedenheit seit Mitte der 1990er-Jahre um ein Drittel gestiegen ist und heute etwa auf die Hälfte der Bevölkerung zutrifft.
Für diese Unzufriedenheit gibt es offenkundig gute Gründe, wie internationale Demokratie-Indizes belegen. In der Rangliste "Freiheit in der Welt" des US-Think-Tanks Freedom House fielen die USA seit 2009 von der Spitze um acht Punkte auf ein Niveau mit Griechenland, der Slowakei und Mauritius. Als Problembereiche nennen die Demokratie-Experten das Wahlsystem, die Unabhängigkeit der Justiz, Korruptionsvorbeugung sowie rhetorische Angriffe auf die Presse, die Rechtsstaatlichkeit und andere Pfeiler der Demokratie.
Im Demokratie-Index des britischen Magazins "Economist" liegen die USA als "unvollständige Demokratie" auf dem 25. Platz. Schwächen werden vor allem bei der Funktionstüchtigkeit der Regierung und bei der politischen Kultur verzeichnet. Deutschland liegt als "volle Demokratie" an 13. Stelle.
Defizite im Wahlsystem
Zahlreiche Probleme gibt es im Wahlsystem, eines wurde zuletzt bei der Wahl Trumps erneut sichtbar. Als fünfter Präsident kam er ins Amt dank der Abstimmung des Wahlmännergremiums, obwohl die Mehrheit der Wähler für die Gegenkandidatin gestimmt hatte.
Weitere Defizite zählt die Wahlbeobachtungsorganisation ODIHR der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) auf. Nach Beobachtung der Zwischenwahlen 2018 beanstandete ODIHR, dass etwa elf Millionen Wahlberechtigte ihr Stimmrecht nicht ausüben konnten, davon 6,1 Millionen strafrechtlich Verurteilte, von denen die Hälfte ihre Strafe bereits verbüßt hatte. Unter diesen seien ethnische Minderheiten überpräsentiert. Etwa 50 Millionen Wahlberechtigte seien nicht registriert. Zwar seien Erleichterungen zur Registrierung unternommen worden. Aber vor allem für Menschen mit niedrigem Einkommen, ethnische Minderheiten, Ureinwohner und Menschen mit Behinderungen seien die Bedingungen zu schwierig. Ähnliches gilt für die Vorlage von Ausweispapieren als Bedingung, die Stimme abgeben zu dürfen, in einigen Bundesstaaten.
Wen repräsentieren die Abgeordneten im Kongress?
In wessen Interesse handeln die Abgeordneten?
Hinzu kommt die häufig verwendete Methode, Wahlkreise zum Vorteil einer Partei - oft der Republikaner - zuzuschneiden. ODIHR monierte außerdem, dass die Wahlkampffinanzierung nicht transparent genug sei. Dabei stiegen die Wahlkampfkosten in den vergangenen Jahren immer weiter. Kandidaten mussten der US-Organisation "Open Secrets"zufolge bei der Wahl 2016 im Schnitt 19,4 Millionen US-Dollar ausgeben, was jene mit großzügigen Spendern im Rücken bevorzugt.
Als Folge finden die Interessen großer Bevölkerungsteile bei Entscheidungen im Kongress nicht genug Beachtung, wie in der Corona-Krise deutlich wurde. Kritisiert wurde zum Beispiel, dass Banken und große Unternehmen umfangreiche finanzielle Unterstützung bekommen konnten, dies für kleine Firmen dagegen schwierig und begrenzt gewesen sei.
Dass außerdem Transparenzregeln beim Einbringen von Gesetzen in den Kongress, bei der Offenlegung von Interessenkonflikten von Abgeordneten sowie die Festlegungen zum Wechsel Abgeordneter in Lobbyorganisationen zu wünschen übrig lassen, darauf verweist das Antikorruptionsgremium GRECO des Europarats.
Zum Problem ist zudem geworden, dass die Besetzung des Obersten Gerichts der USA immer stärker zu einem Machtkampf zwischen Republikanern und Demokraten geworden ist. Deshalb steht die Frage im Raum, ob die Richter unabhängig und ausgewogen im Sinne des Volkes entscheiden - so auch bei Verfassungsklagen zu Wahlergebnissen wie bei der Wahl von George W. Bush im Jahr 2000.
Die Demokratie ist noch nicht am Ende
Dennoch sind die USA weit entfernt von Ländern wie China oder Russland, deren Regierungen sich jetzt darin überbieten, von der US-Regierung die Einhaltung der Menschenrechte zu fordern.
Beide Länder stehen als autoritäre Regime sehr viel weiter hinten im Demokratie-Index des "Economist". Es ist kaum vorstellbar, dass sich Militärs oder Gouverneure in beiden Ländern so klar gegen die Aussagen ihrer Präsidenten stellen würden.
Der pensionierte Viersterne-General Allen schreibt, es sei noch nicht zu spät für die USA. Reformen müssten aus dem Volk heraus kommen. Landesweite Proteste, zahlreiche Demokratie-Projekte und Ideen junger Politiker wie Pete Butigegg zum Beispiel zur Reform des Wahlsystems zeigen, dass die Demokratie zwar in der Krise, aber lange noch nicht am Ende ist.