Apollo11-Astronaut Edwin 'Buzz' Aldrin neben der US-Flagge auf der Mondoberfläche
Interview

ARD-Themenwoche "Woran glaubst Du?" Verschwörungstheorien und Religion

Stand: 09.08.2018 09:28 Uhr

Glauben Menschen neuerdings lieber an eine gefälschte Mondlandung als an Gott? Der Tübinger Professor Michael Butter widerspricht: Verschwörungstheorien gibt es schon lange - sie sind Religionen manchmal aber sehr ähnlich.

ARD-faktenfinder: Herr Professor Butter, Ihr Forschungsgebiet ist sehr unterhaltsam: Die Mondlandung war erfunden, der Mord an John F. Kennedy ein Gemeinschaftswerk von CIA und Mafia und Bill Gates ist der Teufel persönlich. Das Magazin Cicero nennt Verschwörungstheorien "die Weltreligion des dritten Jahrtausends". Würden Sie zustimmen?

Michael Butter: In dieser Absolutheit nicht, weil das ja hieße, dass Verschwörungstheorien im neuen Jahrtausend so unwahrscheinlich zugenommen haben – und das stimmt einfach nicht, wenn wir uns die historische Entwicklung anschauen. Was allerdings stimmt, ist dass Verschwörungstheorien in den Funktionen, die sie für Individuen und Gemeinschaften erfüllen, den Funktionen der Religion doch relativ ähnlich sind.

Zur Person
Michael Butter ist Professor für Amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen und untersucht in einem internationalen Forschungsnetzwerk Verschwörungstheorien.

ARD-faktenfinder:  Welche Funktionen sind das konkret?

Michael Butter: Das sind einfach erst mal Sinngebungs-Funktionen: Sowohl die Religion als auch die Verschwörungstheorie bieten Erklärungen dafür an, wie denn die Welt und auf den ersten Blick unerklärliche Dinge funktionieren. Es sind Mechanismen, die wichtig sind für die individuelle als auch die Gruppenidentität, indem sie die "Gläubigen" – man spricht bei Verschwörungstheorien nicht umsonst auch von "believers" – ansprechen und ihrer eigenen Besonderheit versichern, ihnen also das Gefühl geben, "auserwählt" zu sein.

Die Verschwörungstheoretiker sind diejenigen, die wissen, wie die Welt wirklich funktioniert, während die anderen mit verschlossenen Augen und schlafend durchs Leben gehen. In Religionen haben sich ja auch viele auf die Fahnen geschrieben, dass sie die sind, die die wahre Religion haben, während die anderen die Zustände verkennen.

ARD-faktenfinder:  Das heißt, Verschwörungstheorien taugen auch dazu, sich gegen andere Gruppen gesellschaftlich oder politisch abzugrenzen?

Michael Butter: Natürlich, weil Verschwörungstheorien ganz starke Fremd- und Selbstzuschreibungen machen. Auf der einen Seite werden diejenigen, die an die Verschwörungstheorie glauben, also die eigene Gruppe, positiv hervorgehoben, und gleichzeitig wird einer anderen Gruppe die Schuld zugewiesen an allem Übel, das in der Welt oder einem Land passiert. Hier ist auch diese "Sündenbock"-Funktion, die auch bei religiösen Erklärungsmustern immer wieder da ist, ganz stark ausgeprägt.

Gut und Böse, Verschwörer und Opfer

ARD-faktenfinder:  Es gibt also schon Parallelen zum Beispiel zu den Gnostikern des frühen ersten Jahrtausends und ihrem religiösen Geheimwissen?

Michael Butter: Auf jeden Fall. Christliche Religionen transportieren in vielen Spielarten auch ein gewisses manichäisches Weltbild [Manichäismus: Religion der Spätantike und des frühen Mittelalters, die auf den Prinzipien Licht und Finsternis beruht, Anm. d. Verf.]. In Verschwörungstheorien wird die Welt ja oft in Gut und Böse aufgeteilt, in die Verschwörer und die Opfer der Verschwörung. Das heißt, es gibt eine Vielzahl von strukturellen Parallelen. Historisch wissen wir, dass Verschwörungstheorien extrem Aufschub erfahren in dem Moment, wo traditionelle religiöse Erklärungsmuster nicht mehr so gut greifen wie vorher, also im 18. Jahrhundert. Das heißt jetzt nicht, dass Verschwörungstheorien Religionen einfach ersetzen. Nein, sie können auch durchaus miteinander kompatibel sein und zusammen existieren.

ARD-faktenfinder:  Machen die traditionellen Kirchen etwas falsch, wenn Menschen lieber an Verschwörungstheorien glauben?

Michael Butter: Das ist schwer zu sagen. Ich habe mit einigen Pfarrern oder Leuten in der Sektenberatung gesprochen, die große Parallelen sehen zwischen Sektenstrukturen und den Gemeinschaften rund um Verschwörungstheorien. Meine Vermutung ist, dass die Kirche sich in Deutschland dahingehend entwickelt hat, dass sie nicht mehr den Anspruch erhebt, auf alles die eindeutigsten Antworten geben zu können und zu sagen "Wir können das beweisen!".

Sondern man stellt den Glauben in den Vordergrund und sagt "Die Welt ist eben kompliziert." Verschwörungstheorien funktionieren in dieser Hinsicht anders und fangen damit ein gewisses Potential auf, das die traditionellen Kirchen nicht mehr bedienen können.

Statusunsicherheit als Ursache

ARD-faktenfinder:  Sind säkularisierte Gesellschaften weniger empfänglich für Verschwörungstheorien als religiöser geprägte?

Michael Butter:  Forschungsprojekte zu solchen Fragen sind leider erst in Vorbereitung. Meine Vermutung wäre, dass Gesellschaften, die nicht so stark säkularisiert worden sind, tendenziell für verschwörungstheoretische Erklärungsmuster "anfälliger" sind, weil man dann ein Muster, das strukturell ähnlich funktioniert, einfach nochmal nimmt und dadurch die Religion ersetzt.

Andererseits: Wenn sie sich Deutschland angucken, dann stellen sie fest, dass Verschwörungstheorien auch ganz viel zu tun haben mit Statusunsicherheit. Entsprechend sind Verschwörungstheorien im Osten sicher weiter verbreitet als im Westen, also in dem Teil, der in den letzten Jahren stärker säkularisiert worden ist.

Gemeinschaftsgefühl im Netz

ARD-faktenfinder:  Welche Rolle spielen die Sozialen Medien in diesem Zusammenhang?

Michael Butter: Die Sozialen Medien und das Internet allgemein haben Verschwörungstheorien erst mal wieder sichtbarer gemacht. Wir haben ja manchmal den Eindruck, es gab vor 15 Jahren gar keine Verschwörungstheorien und jetzt sind sie überall. Das ist meiner Ansicht nach falsch. Es ist so, dass wir sie einfach nur mehr wahrnehmen, weil sie vorher in Subkulturen existiert und es nicht in die Mainstream-Medien geschafft haben, nachdem sie bis in die 1950er-Jahre des 20. Jahrhunderts völlig im Mainstream integriert waren. Aber dann sind sie verschwunden - und durch das Internet kommen sie jetzt im Grunde wieder zurück.

Diese Sichtbarkeit hat diesen Vernetzungseffekt: Diejenigen, die an Verschwörungstheorien glauben und im wahren Leben gar nicht so viele haben, mit denen sie sich austauschen können und die ihre Überzeugungen teilen, finden im Internet eine Gemeinschaft, der sie sich anschließen können und dort in ihrem Glauben bestärkt werden. Gleichzeitig macht diese Sichtbarkeit Verschwörungstheorien wieder mehr verfügbar. Insofern hat das Internet auch wieder zu einem Anstieg der Zahl der Verschwörungstheorien geführt.

Denn wenn man nur einen dumpfen Verdacht hatte, dann musste man vor 30 Jahren schon sehr gezielt suchen, bis man verschwörungstheoretische Erklärungsmuster gefunden hat. Heute googelt man einmal und dann sind sie da – und dann überzeugen sie einen vielleicht und man wird viel leichter zum Verschwörungstheoretiker als vor 30 Jahren. Deswegen gibt es heute auch wieder mehr davon  – aber nicht so radikal mehr, wie es auf den ersten Blick vielleicht aussieht.

ARD-faktenfinder:  Wen sehen sie in der Verantwortung, der Verbreitung von Verschwörungstheorien entgegenzuwirken, wenn sie gefährlich werden?

Michael Butter:  Man darf Verschwörungstheorien nicht pauschal verteufeln. Ich glaube, die freie Meinungsäußerung ist ein hohes Gut, selbst in den Fällen, wo Verschwörungstheorien problematische Züge annehmen. Wenn jemand überzeugter Verschwörungstheoretiker ist, ist es ohnehin ganz schwer, diese Person vom Gegenteil zu überzeugen. Das ist ähnlich wie bei überzeugten religiösen Menschen, da kommt man mit faktischen Argumenten nicht sonderlich weit. Die gesellschaftliche Verantwortung muss vorher ansetzen und dafür sorgen, dass gerade jungen Menschen eine Art Medien-Allgemeinbildung vermittelt wird. Sie müssen lernen zu unterscheiden: zwischen der Seite eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders oder einer seriösen Zeitung und dem Blog eines Privatmannes -  und dass das eine verlässlicher ist als das andere. 

Gleichzeitig geht es um historische oder soziale Bildung, die erkennen hilft, warum diese großangelegten Verschwörungsszenarien, wo alles geplant ist und alles aufgeht, einfach nicht funktionieren, weil sich Geschichte nicht planen lässt. Denn Individuen haben auch andere Motive, derer sie sich manchmal gar nicht bewusst sind. Der Ansatzpunkt ist also nicht bei denjenigen, die schon überzeugt sind von den Verschwörungstheorien, sondern bei denen, die dem Ganzen noch skeptisch, neutral oder interessiert gegenüberstehen.

Das Interview führte Matthias Vorndran, MDR