Soziologe zum "Alleinleben" "Wir brauchen völlig neue Lebens- und Wohnformen"
Immer mehr Menschen in Deutschland sind Single und leben alleine. Der Soziologe Stephan Baas erklärt im tagesschau.de-Interview, woher dieser Trend zum Alleinsein kommt und zu welchen Problemen er führt. Er fordert völlig neue Lebens- und Wohnformen gerade für die ältere Generation.
tagesschau.de: Das Alleinleben hat laut Statistischem Bundesamt in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Welche gesellschaftlichen Trends könnten dafür verantwortlich sein?
Stephan Baas: Die meistgenannte These ist ja immer die der Individualisierung, die nunmehr seit 30 Jahren die Soziologie beschäftigt. Im Grunde genommen beschreibt sie die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse der letzten Jahrzehnte recht gut. Sie besagt im Prinzip, dass die Lebensverläufe unsteter geworden sind, nicht mehr strikt festen, gesellschaftlich vorgegebenen Mustern folgen und immer mehr Brüche aufweisen.
In unserer heutigen Gesellschaft wird es immer wichtiger und zugleich schwieriger, Beruf und Familie aufeinander abzustimmen. Das ist ein wichtiger Grund dafür, dass immer mehr Menschen die Lebensform "Single" wählen. Ich würde allerdings eher von einer Lebensphase "Single" sprechen, schließlich ist ein Single häufig nicht ein Leben lang Single, sondern nur für einen gewissen Zeitraum. Man denke an die Singles im mittleren Erwachsenenalter, von 40 bis Mitte 50. Die werden ja oft Single, weil sich langjährige Ehen auseinanderdividiert haben; sie waren vorher aber in einer langjährigen Beziehung.
Stephan Baas ist Soziologe und Gerontologe und arbeitet am Institut für sozialpädagogische Forschung Mainz (ism). Eines seiner Spezialgebiete sind gesellschaftliche Lebensformen und in diesem Bereich besonders die Single-Forschung.
tagesschau.de: Sind Singles heute akzeptierter als früher?
Baas: Es gibt sicher noch einige Vorurteile, aber die sind längst nicht mehr so stark wie etwa in den 50er-Jahren. Single zu sein ist heute fast schon eine normale Lebensform, gerade als junger Mensch, vor der eigentlichen Phase der Familiengründung. Man muss nicht mehr sofort nach dem Auszug aus dem Elternhaus heiraten, und auch die Scheidungen sind ja spätestens nach dem Scheidungsgesetz 1977 normal beziehungsweise normaler geworden. Es ist heute kein Makel mehr, geschieden zu sein.
tagesschau.de: Der/Die Alleinlebende, wer ist das eigentlich? Handelt es sich um eine homogene Gruppe?
Baas: Überhaupt nicht. Das Gegenteil ist der Fall. In einer Studie haben wir etwa grob drei große Gruppen von Singles unterschieden. Gemeinsam haben sie, dass es sich um Personen handelt, die nach eigener Angabe ohne eine feste Partnerschaft leben. Aber sie haben ganz unterschiedliche Lebensziele, Perspektiven und Wünsche.
Das Statistische Bundesamt versteht unter dem Begriff "Alleinlebende" alle Personen, die alleine in einem Haushalt wohnen. Baas' "Single"-Begriff hingegen meint alle Personen, die nicht in einer festen Partnerschaft leben. Die Begriffe haben zwar eine große Schnittmenge, aber sind nicht deckungsgleich. Zwar leben viele Singles in einem Einpersonenhaushalt, aber längst nicht alle, man denke nur an Wohngemeinschaften. Umgekehrt ist nicht jeder der alleine lebt ein Single. Beispielsweise leben Partner in einer Fernbeziehung räumlich getrennt.
tagesschau.de: Können Sie diese drei Gruppen kurz skizzieren?
Baas: Die erste Gruppe, die wir unterschieden haben, ist zwischen 20 und 30 Jahre alt und hat die Familienbildungsphase noch vor sich. Diese Singles probieren sich noch aus, sie leben in wechselnden Partnerschaften oder führen überhaupt keine Beziehung. Die zweite Gruppe sind die geschiedenen Singles zwischen 40 und 50, die sich nach einer zehn- bis 20-jährigen Ehe scheiden lassen. Sie haben die Familienphase bereits hinter sich und trennen sich oft, nachdem die Kinder aus dem Gröbsten raus sind. Das ist mittlerweile ein zunehmender Trend. In der Mehrheit sind es dabei die Frauen, die die Trennung herbeiführen, die Männer sind dann oft etwas überraschter.
Die dritte Gruppe, die es aber immer schon gab, sind die verwitweten älteren Frauen. Männer sterben ja bekanntlich im Schnitt früher als Frauen. Diese machen dann mit knapp 80 Prozent auch den Großteil der Singles in dieser Altersgruppe aus. Sie geraten zunehmend in den gesellschaftlichen Fokus, denn diese Gruppe wächst stetig, was vor allem mit der gestiegenen Lebenserwartung zusammenhängt.
tagesschau.de: Welche Singletypen haben denn besonders Probleme mit dem Alleinsein?
Baas: Beispielsweise die geschiedenen Männer um die 50. Denen geht es deutlich schlechter als den geschiedenen Frauen aus dieser Altersgruppe. Sie sind häufig noch auf Partnerschaften und Ehen fixiert und verheiraten oder verpartnern sich auch sehr viel schneller wieder. Sie sind sehr viel einsamer und unglücklicher als die geschiedenen Frauen, die oft sehr selbstbewusst und auch selbstbestimmt ein Leben ohne Partnerschaft führen. Auch im hohen Alter kommen Frauen, entgegen landläufiger Meinung, gut mit dem Alleinleben zurecht. Viele verwitwete Frauen sind nicht unglücklich und fühlen sich auch nicht einsam. Oft haben sie zahlreiche Kinder und Schwiegerkinder und werden von ihrem familiären Netzwerk umsorgt, auch wenn die Angehörigen nicht im selben Haus wohnen.
tagesschau.de: Man kann also nicht sagen, dass Alleinlebende per se sozial isoliert oder gar beziehungsunfähig wären?
Baas: Weder noch. Die These, dass Singles unglücklich sind und Defizite in der frühen Bindungsphase erfahren haben, konnte bislang nicht hinreichend belegt werden. Singles haben auch nicht weniger soziale Kontakte als Menschen, die in einer Beziehung leben, im Gegenteil. Wobei die pure Menge der sozialen Kontakte noch nichts über die "gefühlte Einsamkeit" der Singles aussagt. Diese variiert je nach Singletypus stark. Während ältere verwitwete Frauen sich mehrheitlich gut eingebunden fühlen, leiden gerade frisch geschiedene Männer oft an einem starken Gefühl der Einsamkeit. Definitiv nicht einsam sind die ganz jungen Singles, die ihre Familienphase im Regelfall noch vor sich haben.
tagesschau.de: Ist die steigende Zahl von Alleinlebenden aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive problematisch?
Baas: Ich würde es nicht kulturpessimistisch betrachten und alleine Partnerschaften und Ehen zum Heil der Gesellschaft stilisieren. Es ist ja eine völlig falsche Annahme, dass der Anstieg von Singles zu einem Rückgang der Geburtenrate führen würde. Trotzdem werden sich völlig neue Allianzen auftun müssen, was Solidarität und Fürsorge füreinander angeht. Da brauchen wir völlig neue Lebens- und Wohnformen, in denen verschiedene Generationen miteinander Leben und Verantwortung füreinander übernehmen können, unabhängig davon, ob sie sich in einer Partnerschaft befinden. Ich glaube nicht, dass eine weitere Zunahme von Singles zu einer Vereinsamung der Gesellschaft führen würde.
tagesschau.de: Kann man abschätzen, wie sich die Zahl der Alleinlebenden in den kommenden Jahren entwickeln wird?
Baas: Das ist sehr schwierig. Ich will auch keine reine Kaffesatzleserei betreiben. Aber Trennungen und Scheidungen werden aller Voraussicht nach auch zukünftig nicht abnehmen. Es ist einfach normaler geworden, an einer bestimmten Stelle zu sagen, so geht es einfach nicht mehr weiter.
Gerade im höheren Erwachsenenalter, jenseits der 60, ist mit einem Anstieg der Scheidungen zu rechnen. Wo Ehepartner heute noch sagen, wir trennen uns nicht mehr, sondern bleiben bis zum Tod eines Ehepartners zusammen, werden künftige Generationen vielleicht die Option sehen, in ihrem Leben noch einmal etwas Neues ohne den Partner zu beginnen, auch wenn man mit ihm schon 30 oder 40 Jahre zusammen war. Da könnten sich ganz neue Lebensformen für die geschiedenen Singles im hohen Alter ergeben.
tagesschau.de: Wie könnten solche Lebensformen aussehen?
Baas: Ich denke da an Wohngemeinschaften im Alter, Mehrgenerationenhäuser oder Ähnliches.
Das Interview führte Sven Ole Spindler für tagesschau.de