Interview mit Psychologen zum Amoklauf "Kein Ausrasten, sondern kühle Kalkulation"
Erfurt, Emsdetten, Winnenden - Schauplatz von Amokläufen sind häufig Schulen. Der Psychologe Jens Hoffmann erklärt, warum es gerade dort passiert. Ein klares Täterprofil gibt es nach seiner Einschätzung nicht - aber es gibt Möglichkeiten, potenzielle Gewalttäter früher zu erkennen.
Erfurt, Emsdetten, Winnenden - Schauplatz von Amokläufen sind häufig Schulen. Der Psychologe Jens Hoffmann erklärt, warum es gerade dort passiert. Ein klares Täterprofil gibt es nach seiner Einschätzung nicht - aber es gibt Möglichkeiten, potenzielle Gewalttäter früher zu erkennen.
Frage: Sie beschäftigen sich seit Jahren mit Amokläufen und den jugendlichen Verursachern. Immer wieder ereignen sich solche Taten an Schulen, dabei sind die Täter nicht selten Ex-Schüler. Warum dieser Ort?
Jens Hoffmann: Die Schule ist ein Ort, der auch viele Demütigungen und Niederlagen bereithalten kann. Für Jugendliche in dem Alter ist es der zentrale Ort, wie später für Erwachsene die Arbeitsstelle. Diese Orte haben eine symbolische Qualität für Jugendliche: für ein Gefühl von Scheitern, schlecht behandelt oder sogar verspottet zu werden.
Dr. Jens Hoffmann ist Diplom-Psychologe und einer der beiden Leiter des Instituts für Psychologie und Sicherheit in Aschaffenburg. Seit 2001 lehrt und forscht er an der Arbeitsstelle für Forensische Psychologie der TU Darmstadt. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist zielgerichtete Gewalt und Amok an Schulen.
Frage: Handelt es sich denn bei Amokläufen an Schulen um Kurzschlussreaktionen oder sind die meisten Taten langfristig geplant?
Hoffmann: Nicht nur die meisten, sondern alle Taten sind vorher geplant: viele Monate, einige sogar über Jahre. Die Vorstellung, dass beim Amoklauf jemand ausrastet, ist komplett falsch. Solche Taten sind von kühler Kalkulation und Vorbereitung gekennzeichnet: Die Handlungsstrecken reichen vom Beginn mit Gewaltphantasien bis zur konkreten Vorbereitung.
Frage: Sie haben ein System gegen Amokläufe entwickelt, das dabei helfen soll, potenzielle Gewalttäter früher zu erkennen. Dieses System wird an Schulen und auch bei der Polizei eingesetzt. Wie funktioniert es?
Hoffmann: Das System befindet sich noch in der Testphase. Es nennt sich Dynamische Risiko-Analyse-System und hat 32 Variablen, die wir immer wieder in den Fällen gefunden haben. Dabei werden konkrete Verhaltensweisen abgefragt wie: Hat der Jugendliche Suizidäußerungen getätigt? Ist er von anderen Amokläufern fasziniert? Das System gibt dann aus, ob sich ein Muster abbildet, und zwar in Form eines Gefahrenstufen-Modells: von Grün für kein Risiko bis Rot für ein sehr hohes Risiko. Das System orientiert sich aber immer nur am Verhalten und an bestimmten Äußerungen, nicht an einer Art von dubiosen Profilen.
Frage: Es handelt sich bei dem Täter in Winnenden um einen aus dem Umfeld bekannten, unauffälligen, schüchternen - sogar netten - 17-Jährigen. Wie passt das ins Täterprofil?
Hoffmann: Man darf keine Monster erwarten, und es gibt auch kein Täterprofil. Aber wir werden jetzt wahrscheinlich feststellen, dass es in dem Fall vorher Äußerungen, Andeutungen und Zeichen gab, die das Umfeld wahrgenommen hat, und nicht richtig zu deuten wusste. Man sollte auf solche Zeichen eher zu viel als zu wenig achten, und wenn etwas erkannt wird, nach weiteren Merkmalen und einem Muster suchen. Tritt nur eine Sache wie eine einzige Drohung auf, stellt das kein akutes Gefahrenpotential dar.
Das Interview führte Ina Böttcher von ARD-aktuell telefonisch im Sender EinsExtra. Es wurde für tagesschau.de transkribiert.