Fragen und Antworten zum NSU-Prozess 1000 Aktenordner Anklage
Vor dem Münchner Oberlandesgericht hat der NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Helfer begonnen. Wie lautet die Anklageschrift? Mit welchen Strafen müssen sie rechnen?
Von Frank Bräutigam, SWR
Wer hat die Anklage verfasst?
Oberster Ankläger der Republik in Sachen Terrorismus ist Generalbundesanwalt Harald Range in Karlsruhe. Seine Behörde hatte die Ermittlungen am 11. November 2011 übernommen, als klar geworden war, dass mit der gefundenen Waffe Ceska eine ganze Mordserie mit rechtsextremem Hintergrund durchgeführt wurde. In der Hauptverhandlung werden bis zu fünf Vertreter der Bundesanwaltschaft im Gerichtssaal sein.
Welchen Umfang hat die Anklageschrift?
Die Anklageschrift ist 488 Seiten lang und hat als Anhang eine Liste von möglichen Beweismitteln (Zeugen, Dokumente etc.). Der Umfang der Verfahrensakten insgesamt soll rund 1000 Aktenordner betragen.
Warum findet das Verfahren in München statt?
Zentrales Kriterium für das zuständige Gericht ist der Tatort der angeklagten Verbrechen. Die Bundesanwaltschaft hatte die Wahl, da die Morde an verschiedenen Orten in Deutschland begangen wurden. Fünf von zehn Morden geschahen in Bayern, in Nürnberg und München. Deswegen hat sich die Bundesanwaltschaft für dieses Bundesland entschieden. In erster Instanz sind für sogenannte "Staatsschutzsachen" - meistens geht es dabei um Terrorismus - die Oberlandesgerichte zuständig. Jedes Bundesland hat ein Oberlandesgericht für diese speziellen Verfahren benannt. In Bayern ist es das Oberlandesgericht München.
Was wird den Angeklagten vorgeworfen?
Beate Zschäpe ist des Mordes an zehn Menschen in Mittäterschaft angeklagt. Sie soll außerdem als Mittäterin für 15 bewaffnete Raubüberfälle verantwortlich sein. Hinzu kommt der Vorwurf versuchter Mord wegen der Sprengstoffanschläge des NSU in Köln. Außerdem wird der 37-Jährigen zur Last gelegt, das Haus des NSU in Zwickau in Brand gesetzt zu haben. Weil dabei Personen in der Nähe waren, lautet der Vorwurf auch hier versuchter Mord. Außerdem ist sie wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung angeklagt.
Ralf Wohlleben und Carsten S. sollen die Tatwaffe, eine "Ceska 83" nebst Schalldämpfer besorgt haben, die bei neun Mordanschlägen verwendet wurde. Sie sind deshalb wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen angeklagt.
André E. legt die Bundesanwaltschaft eine Beihilfe zum Sprengstoffanschlag des NSU in der Kölner Altstadt zur Last. Außerdem soll er die terroristische Vereinigung bei Raubüberfällen unterstützt haben.
Holger G. ist wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung in drei Fällen angeklagt, er soll Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos dabei unterstützt haben, ihre Identität zu verschleiern.
Was bedeutet der Vorwurf "Mittäterschaft" juristisch?
"Begehen mehrere die Straftat gemeinschaftlich, so wird jeder als Täter bestraft (Mittäter)", das ist die Formulierung in § 25 Absatz 2 Strafgesetzbuch. Eine Straftat wird oft arbeitsteilig verübt. Eine Person raubt beim Banküberfall das Geld, eine Person hält die Kunden in der Schalterhalle in Schach, die dritte wirkt mehr im Hintergrund, damit die Tat gelingen kann.
Bei der Mittäterschaft werden die einzelnen Beiträge den anderen Mittätern jeweils zugerechnet. Mittäter haben einen gemeinsamen Tatplan, das ist die erste Voraussetzung. Jeder will die Tat als seine eigene. Außerdem braucht man einen eigenen Tatbeitrag des Mittäters. Aber: Dieser Beitrag muss nicht unbedingt am Tatort selbst geleistet werden. Es reicht im Grundsatz ein Fördern der gemeinsam gewollten Tat, sei es durch Rat, bewusstes Bestärken oder eine vorbereitende Handlung.
Kann Beate Zschäpe Mittäterin sein, auch wenn sie nicht direkt an den Morden beteiligt war?
Ja, das ist juristisch möglich. Die Bundesanwaltschaft geht mit diesem Vorwurf in der Anklageschrift aufs Ganze. Zschäpe habe von den Morden gewusst und sie als eigene Taten gewollt. Gleichzeitig habe sie wichtige Beiträge im Hintergrund geleistet, zum Beispiel die Finanzen der Gruppe verwaltet, falsche Papiere besorgt, am Bekennervideo mitgewirkt und so weiter. Ohne diese Beiträge sei die jahrelang unentdeckte Mordserie kaum möglich gewesen. Deswegen könnten ihr die Morde zugerechnet werden, so die Ankläger. Hier werden die Verteidiger massiv dagegenhalten.
Die Frage, ob Zschäpe in der Nähe eines Tatorts von einer Zeugin gesehen wurde (im Juni 2005 in Nürnberg), ist zwar hoch spannend. Mit ihr steht und fällt aber nicht eine mögliche Verurteilung wegen Mordes als Mittäterin. Entscheidend wird sein, ob das Gericht am Ende von einem gemeinsamen Tatplan des Trios überzeugt ist, und ob sich gewichtige Tatbeiträge Zschäpes im Hintergrund beweisen lassen.
Was ist der Unterschied von "Mittäterschaft" und bloßer "Beihilfe"?
Der Mittäter plant und möchte die Straftat als seine eigene. Beihilfe (§ 27 Strafgesetzbuch) bedeutet dagegen: jemand leistet Hilfe zu einer fremden Straftat, die er kennt und billigt, aber nicht als eigene will. Wegen "Beihilfe zum Mord" wird zum Beispiel Ralf Wohlleben angeklagt. Er soll der Kerngruppe die Tatwaffe "Ceska" beschafft haben, ohne an den Morden beteiligt gewesen zu sein.
In der Theorie lassen sich Mittäterschaft und Beihilfe gut abgrenzen, in der Praxis gibt es aber kein "Schema F", in das sich jeder Fall sicher einordnen lässt. Für die Gerichte stellen sich regelmäßig schwierige Wertungsfragen. Deswegen sind auch Prognosen über den genauen Ausgang so schwierig. Die Diskussion um die Mittäterschaft wird den Prozess juristisch prägen. Selbstverständlich muss jeder einzelne Vorwurf bewiesen werden.
Was heißt dieser Unterschied für ein mögliches Strafmaß am Ende des Prozesses?
Den Mittäter erwartet im Falle einer Verurteilung das volle Strafmaß. Bei Mord ist das lebenslange Haft. Für Beihilfe sieht das Gesetz dagegen eine Strafmilderung vor. Bei "Beihilfe zum Mord" kann also aus "lebenslang" eine zeitlich begrenzte Strafe werden - mindestens drei, höchstens 15 Jahre. Die unterschiedlich starke Beteiligung hat also große Auswirkungen.
"Lebenslang heißt doch 15 Jahre" - diese verbreitete Ansicht ist so übrigens nicht richtig. Bei einer Verurteilung zu lebenslanger Haft muss das Gericht nach 15 Jahren prüfen, ob es Gründe für eine vorzeitige Entlassung gibt. Der Verurteilte kommt aber nicht in jedem Fall frei. Wenn im Urteil eine "besondere Schwere der Schuld" festgestellt wurde, fällt die Möglichkeit einer Entlassung schon nach 15 Jahren sogar ganz weg. Fragen des Strafmaßes werden sich allerdings erst ganz am Ende des Prozesses stellen.
Was wäre, wenn man Zschäpe weder Mittäterschaft noch Beihilfe nachweisen könnte?
Dann bliebe die Anklage als Mitglied in der terroristischen Vereinigung NSU. Dafür muss Zschäpe nicht an den Morden mitgewirkt haben. Sie ist aber außerdem wegen Beteiligung an Banküberfällen und der Brandstiftung an der Wohnung in Zwickau angeklagt, was die Ermittler als versuchten Mord werten. Sie habe in Kauf genommen, dass Menschen bei dem Brand umkommen könnten. Auch dafür könnte am Ende eine lebenslange Freiheitsstrafe stehen.
Welche Zeugen hat das Gericht für den Prozess geladen?
Wichtige Bestandteile sind die Aussagen der Mitangeklagten Holger G. und Carsten S. Vor allem Holger G. hat Zschäpe als wichtiges Mitglied der Gruppe bezeichnet und damit belastet. Es sind aber auch Zeugen aus dem Umfeld der NSU-Mitglieder geladen, zum Beispiel Zschäpes Mutter, ihr Cousin, der Vater von Mundlos, die Mutter von Böhnhardt.
Interessant werden dürften auch die Auftritte von Tino Brandt, ehemaliger V-Mann und Chef der Kameradschaft "Thüringer Heimatschutz". Bislang sind bereits mehr als 600 Zeugen geladen. Wegen der vielen Verfahrensbeteiligten können die einzelnen Vernehmungen durchaus Zeit in Anspruch nehmen, was Einfluss auf die Dauer des Prozesses haben dürfte.
Warum sind mehrere Angeklagte nicht mehr in Untersuchungshaft?
Der wegen Unterstützung angeklagte Holger G. wurde im Mai 2012 auf Anordnung des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Karlsruher Richter sahen keinen "dringenden Tatverdacht", den man für einen Haftbefehl braucht. Man könne nach Aktenlage nicht mit der nötigen Sicherheit davon ausgehen, dass G. von den Zielen der Vereinigung "NSU" gewusst habe. Aus ähnlichen Gründen ist André E. wieder auf freien Fuß gekommen.
Das zeigt ein Grundproblem für die Ankläger bei vielen mutmaßlichen Unterstützern des NSU. Objektive Unterstützung lässt sich recht gut belegen, aber die subjektive Seite ist oft schwer nachzuweisen. Auch wenn der Haftbefehl aufgehoben ist - eine Anklage ist wie bei Holger G. und André E. trotzdem möglich. In der Hauptverhandlung muss sich zeigen, ob sich der Vorwurf beweisen lässt.
Wird noch gegen weitere Personen ermittelt, die nicht angeklagt sind?
Insgesamt ermittelt die Bundesanwaltschaft im NSU-Komplex gegen 14 Personen. Davon sind nun fünf angeklagt, es besteht also ein hinreichender Tatverdacht. Ob es zu weiteren Anklagen kommen wird, ist noch nicht klar. Es ist immer wieder von einem großen Netzwerk rund um die Kerngruppe die Rede. Die Anklagen nur in wenigen Fällen zeigen, dass die Ermittler derzeit von einem sehr abgeschlossenen Zirkel von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt ausgehen, mit wenigen Unterstützern, die wirklich von deren Zielen und Taten wussten.