Interview zur Lage der Aussiedler "Diese Integration ist erstaunlich gut gelaufen"
Integration von Einwanderern ist ein vieldiskutiertes Thema - um die vielen Aussiedler geht es dabei selten. Heute trifft Bundespräsident Wulff russischstämmige Jugendliche. Der Experte Klingholz erklärt im Interview mit tagesschau.de, warum die Integration der Aussiedler eine Erfolgsgeschichte ist.
tagesschau.de: Die Islam- und Integrationsdebatte war in letzter Zeit sehr präsent - niemand scheint aber über die Integration von Aussiedlern zu sprechen. Wie ist deren Eingliederung gelaufen?
Reiner Klingholz: Dass nichts über Aussiedler in der Zeitung steht, ist ein gutes Zeichen. Die Normalität interessiert ja oft keinen. Wenn es schiefläuft, wird es zum Thema. Tatsächlich ist die Integration der Aussiedler erstaunlich gut gelaufen - und besser als es die meisten Menschen wohl erwartet haben. Es gibt sehr viele Aussiedler, fast vier Millionen. Das sind deutlich mehr als zum Beispiel die türkischstämmigen Zuwanderer.
tagesschau.de: Woher kommt dieser Erfolg?
Klingholz: Es gibt vor allem zwei Gründe. Anders als die Gastarbeiter-Migranten sind sie über das ganze Land verteilt worden. Sie wurden zugewiesen - oft in ländliche Regionen, was für Migranten ungewöhnlich ist. Hinzu kommt, dass sie nicht deutlich anders aussehen als die "Einheimischen". Sie gehen also insgesamt stärker in der Gesellschaft auf.
Außerdem hatte Bildung in den Herkunftsländern der Aussiedler einen hohen Stellenwert. Viele von ihnen haben einen Abschluss mitgebracht - der wurde zwar leider oft nicht anerkannt. Von ihren Kindern haben sie aber in punkto Bildung mehr erwartet als es die ungelernte Gastarbeiter-Einwanderer aus ärmlichen Regionen in Anatolien oder Jugoslawien jemals konnten. Deswegen hat die zweite Generation der hier Geborenen bereits einen besseren Bildungsstand als der deutsche Durchschnitt.
tagesschau.de: Hohe Bildungsabschlüsse haben ihnen auf dem Arbeitsmarkt nicht unbedingt geholfen.
Klingholz: Für die erste Generation stimmt das. Wer in Kasachstan Lehrerin war, darf das nicht 1:1 auch hier sein. Das Problem wurde in Deutschland lange Zeit vernachlässigt. Man hätte die Leute viel früher mit Nachqualifikationen auf den Stand bringen müssen. Da hat man Potenzial verschleudert. Deswegen fahren viele Lehrer und Ärzte aus diesen Ländern hier Taxi. Das gefällt ihnen nicht unbedingt, aber sie tun es.
Die Erwerbsquote ist aber sehr hoch. Unter den türkischstämmigen Einwanderern sind die Frauen oft zu Hause, weil das teilweise kulturell erwünscht ist. Sie stehen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. Die Aussiedler kennen es aus den osteuropäischen Ländern hingegen so, dass Frauen arbeiten. Und ein Arbeitsplatz hilft natürlich wiederum bei der Integration.
tagesschau.de: Aussiedler gelten als Deutsche und bekommen problemlos einen deutschen Pass. Welche Rolle spielt das bei ihrer Integration?
Klingholz: Das ist ein eklatanter Vorteil gegenüber anderen. Die Politik behandelt sie nicht als Migranten, sondern als Deutsche, die sozusagen kurz weg waren. Sobald sie einen Fuß nach Deutschland gesetzt haben, bekommen sie einen deutschen Pass. Das erleichtert ihre Integration massiv. Sie bekommen zudem Vergünstigungen wie Integrations- und Deutschkurse, mehr als alle anderen. Das spricht nicht gegen die Aussiedler – sondern gegen die Integrationspolitik. Das zeigt, dass man bei anderen Gruppen auch etwas erreichen könnte, wenn man wollte.
tagesschau.de: Den Pass haben sie - wie groß ist aber die Integrationsbereitschaft?
Klingholz: Das ist natürlich schwer zu messen. Aber Aussiedler bleiben nicht unter sich. An der Quote der bikulturellen Eheschließungen sieht man, dass sie sich stark mit der einheimischen Bevölkerung vermischen. Von der zweiten Generation der bereits hier geborenen Verheirateten sind 67 Prozent eine Ehe mit Einheimischen eingegangen - das ist sehr viel. Ihr Migrationshintergrund wird so über kurz oder lang verloren gehen. Und Heiraten mit der einheimischen Bevölkerung sind der beste Weg dahin.
tagesschau.de: Trotzdem gab es immer wieder Berichte über kriminelle Aussiedler - gibt es da tatsächlich einen verstärkten Zusammenhang?
Klingholz: In Städten wie Berlin gibt es da eine gewisse Häufung von Kriminellen mit russischem Hintergrund. Aber da werden oft Russlanddeutsche und Russen verwechselt. Es gibt ja auch viele Russen und Ukrainer, die eingewandert sind, ohne deutsche Vorfahren zu haben.
Aus manchen Kommunen heißt es, dass gerade die letzte Generation der Aussiedler die meisten Probleme habe. Das seien Menschen, die eigentlich nicht nach Deutschland mitkommen wollten, die emotionale Probleme hätten - und angeblich auch mehr Kontakt zur Kriminalität. Hinter dieser Erkenntnis stecken allerdings eher Anekdoten denn eine verlässliche Statistik.
In Friedland kamen 2010 mit rund 2300 so wenig Spätaussiedler an wie nie zuvor seit Gründung des Lagers nach dem Zweiten Weltkrieg. Für 2011 sei mit einem erneuten Rückgang zu rechnen, hieß es.
Im Rekordjahr 1950 waren noch rund 400.000 Aussiedler registriert worden. Seither sind etwa 4,5 Millionen Aussiedler vor allem aus Polen, Rumänien und der Ex-Sowjetunion nach Deutschland gekommen.
tagesschau.de: Sie sehen die Aussiedler-Einwanderung also als Gewinn?
Klingholz: Ich würde sagen: ja. Sie hat uns einerseits vor dem noch stärkeren Schrumpfen der Bevölkerung bewahrt. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs kamen noch mal fast drei Millionen. Wir waren ja schon vor der Wende eigentlich auf Schrumpfkurs. Das sind wir erst seit 2003 wieder, auch wegen der Aussiedler. Und wenn man sieht, was die zweite Generation an Bildungserfolgen hinlegt, ist das andererseits nicht nur ein quantitativer, sondern ein qualitativer Gewinn.
tagesschau.de: Und werden wir in zehn Jahren noch über Aussiedler reden?
Klingholz: Ich schätze, das ist dann kein Thema mehr. Ähnlich wie die vielen Polnischstämmigen im Ruhrgebiet, die Tilkowskis und Schimanskis, heute nicht mehr als Migranten gesehen werden. Das sind ganz normale Deutsche geworden.
Es dauert generell immer eine Weile, bis sich Integration in Assimilation gewandelt hat. Das werden wir in der Zukunft immer mehr erleben: Wir werden immer mehr Zuwanderung haben, die wir auch brauchen. Es muss wie in den USA normal sein, dass von 100 Leuten in einem Raum 50 nicht klassisch deutsche Namen haben - wie Müller, Meyer oder Schmidt.
Das Interview führte Fabian Grabowsky, tagesschau.de