Agrar-Gipfel im Kanzleramt "Politik hat versäumt, Weichen zu stellen"
Angela Merkel und Julia Klöckner empfangen heute wütende Bauern. Ihr Protest sei verständlich, sagt Agrarwissenschaftler Wiggering im tagesschau.de-Interview. Die Politik habe die Probleme zu lange ignoriert.
tagesschau.de: Vergangene Woche gab es in Berlin einen der wohl größten Bauernproteste in Deutschland überhaupt. Ist die Empörung der Bauern berechtigt?
Hubert Wiggering: Es ist zumindest berechtigt, dass sie auf die Straße gehen. Es geht dabei ja um die gesamte Stimmung, die sich momentan gegen die Landwirtschaft richtet. Den Landwirten wurde in der Vergangenheit immer wieder vorgeworfen: 'Ihr seid die Bösen'. Dass da eine Frustration aufkommt, ein Gefühl von Diskriminierung, kann ich nachvollziehen.
Man muss sehen, dass viele Landwirte sich einfach an der fachlichen Praxis orientieren. Sie dürfen ja Dünger auf den Acker bringen, sie dürfen Pflanzenschutzmittel verwenden und so weiter. Dabei reizen sie natürlich alles aus, um wirtschaftlich gut dazustehen. Dennoch klagen wir auch die Landwirte an, die alle rechtlichen Bestimmungen einhalten. Im Grunde ist es die Politik, die verpasst hat, rechtzeitig die richtigen Weichen zu stellen und mit den Landwirten Schritt für Schritt in die richtige Richtung zu gehen.
"Es hätte differenziertere Lösungen gegeben"
tagesschau.de: Was genau hat die Politik versäumt?
Wiggering: Bei den Nitratwerten beispielsweise wissen wir schon sehr lange, dass wir die europäische Wasserrahmenrichtlinie nicht einhalten. Das wird nicht zum ersten Mal problematisiert, eine solche Welle gab es vor vielen Jahren schon einmal. Dennoch werden immer wieder reflexartig undifferenzierte Neuregelungen aus dem Boden gestampft.
Jeder Landwirt wird einsehen, dass man hier tätig werden und ökologischer denken muss. Aber wenn wir uns jetzt die Vorschläge für neue, undifferenziert schärfere Düngeregeln anschauen - die längeren Sperrzeiten für das Düngen und das Verbot des Düngens mit Gülle beispielsweise in Gewässernähe - muss man sagen, dass es seitens der Wissenschaft und auch der Landwirtschaft durchaus differenzierte Ansätze gäbe, bei denen man auf die unterschiedlichen Böden in verschiedenen Regionen eingeht. Man kann sehr differenziert sagen, wo weniger und wo stärker gedüngt werden sollte. Das Wissen und die Technik sind da.
"Bei Glyphosat nach Alternativen suchen"
tagesschau.de: Ein weiterer strittiger Punkt ist die Einschränkung von Unkraut- und Schädlingsgiften wie Glyphosat. Manche Bauern sprechen davon, dass diese Regelungen nicht umsetzbar seien. Stimmt das?
Wiggering: Auch diese Thematik schieben wir schon seit Jahren vor uns her. Es ist völlig klar, dass Ökosysteme und Biodiversität darunter leiden und hier nach neuen Lösungsansätzen für Schädlingsbekämpfung gesucht werden muss. Dennoch tun alle - auch die Landwirte - so, als ob das jetzt völlig überraschend kommt und die Genehmigung von Glyphosat deshalb doch wieder verlängert werden muss.
Dabei kann man hier mit alternativen Stoffen arbeiten oder auch durch mechanische Anbaumethoden oder geschickte Fruchtfolgen Erfolge erzielen. Zwar ist etwas dran, dass die Landwirte hier nicht genügend vorbereitet sind. Es ist aber auch nicht haltbar, das immer wieder als Argument vor sich herzutragen, anstatt nach alternativen Lösungen zu suchen.
"Es braucht konkrete Zielvorgaben"
tagesschau.de: Ist der Gegenwind der Bauern beim Thema Tierwohllabel angebracht? Immerhin ist das nicht einmal verpflichtend, sondern freiwillig.
Wiggering: Auch hier hätten frühzeitig andere Rahmenbedingungen gesetzt werden müssen. Es gibt zwar Landwirte, die vormachen, dass die entsprechenden Auflagen eingehalten werden können, indem man mehr Platz in den Ställen, tierfreundliche Ausstattung und ähnliches hat. Die Politik muss dafür aber auch andere Genehmigungsverfahren beispielsweise bei Stallneubauten auf den Weg bringen oder beim Thema Immissionsschutz.
Man kann beim Tierwohl Verbesserungen einführen und die auch verpflichtend machen. Aber dann muss man dem Landwirt auch die Möglichkeit geben, die Haltungssysteme in diese Richtung zu entwickeln. Momentan gibt es kaum Stallneubauten, weil die Landwirte keine Planungssicherheit haben. Wir brauchen konkrete Zielvorgaben, wo es hingehen soll und dafür müssen dann die Voraussetzungen geschaffen werden. Und das muss dann auch Bestand haben und darf nicht alle paar Jahre geändert werden.
"In anderen Ländern gibt es strengere Vorgaben"
tagesschau.de: Sind die Bauern durch die geplanten Regelungen tatsächlich in ihrer Existenz gefährdet oder ist das übertriebenes Getöse?
Wiggering: Das ist im Einzelnen schwer zu beurteilen, weil die Diskussion auch sehr emotional ist. Es wird mit Sicherheit durch bestimmte Verschärfungen zu Härten für die Landwirte kommen. Andererseits sind beispielsweise die Düngevorschriften in anderen Ländern wie Dänemark, Polen oder den Niederlanden längst viel restriktiver. Dort sind die Landwirte, trotz der Restriktionen noch wettbewerbsfähig und sehen sich nicht in ihrer Existenz bedroht.
tagesschau.de: Wo machen es sich die Bauern zu einfach?
Wiggering: Ich will nicht alle Bauern über einen Kamm scheren. Aber bei den jetzigen Protesten fällt immer wieder auf, dass es eine Abwehrhaltung an sich gibt. Bei manchen ist die Bereitschaft, sich zu öffnen verloren gegangen. Es ist zu einfach zu sagen: 'Wir wollen den Status Quo einfrieren'. Das lässt außer Acht, dass unsere natürlichen Systeme durch Nitrat- oder andere stoffliche Belastungen an Grenzen kommen. Und auch, dass die Gesellschaft beim Ernährungsverhalten andere Wege geht. Da sollten die Landwirte aktiv an der Transformation mitarbeiten und in die Offensive gehen.
"Auch Konsumenten müssen sich umstellen"
tagesschau.de: Welche Verantwortung liegt beim Konsumenten?
Wiggering: Auch wir müssen unser Kaufverhalten anpassen. Wenn Konsumenten bereit sind, für schärfere Regeln in der Landwirtschaft auch höhere Preise zu zahlen, dann kann die Transformation gelingen. Wir müssen letztlich entlang der gesamten Wertschöpfungskette alle mitnehmen, Produzent, Einzelhandel und auch Konsument.
tagesschau.de: Welche Bauern sind es denn vor allem, die sich am Protest beteiligen?
Wiggering: Das ist keine homogene Gruppe, es sind Landwirte aller Couleur: große Betriebe, genauso wie kleine und mittlere. Konventionelle Landwirte, aber auch Öko-Landbauern, die alle jeweils wieder recht unterschiedliche Anliegen haben. Das macht es nicht leichter, das Gespräch mit ihnen zu führen.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de