Religionssoziologe zur Beschneidungsdebatte "Antireligiöse Vorbehalte befeuern Debatte"
Der Gesetzesentwurf zur Beschneidung, der heute in einer Expertenanhörung behandelt wird, hat ein klares Ziel: "Der Konflikt soll entschärft werden", sagt Soziologe Pollack gegenüber tagesschau.de. Die Debatte werde vor allem durch antireligiöse Vorbehalte befeuert. "Und auch durch Juden und Muslime."
tagesschau.de: Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung erklärt die Beschneidung weiterhin für zulässig, wenn diese nach den "Regeln der ärztlichen Kunst" durchgeführt wird. Ist die Debatte damit jetzt befriedet?
Detlef Pollack: Zumindest zielt der Gesetzesentwurf genau darauf ab. Es wird sehr deutlich, dass man hier versucht hat, die Konflikte zu deeskalieren und vor allem den Religionsgemeinschaften in Deutschland zu signalisieren, dass sie keinen Grund haben, sich benachteiligt zu fühlen. Es ist ganz klar ein Entwurf, der die Freiheit der Religionsausübung schützt und medizinische Bedenken nicht so stark berücksichtigt. Das kann man natürlich auch kritisieren. Der Verband der Kinder- und Jugendärzte hat sich ja beispielsweise erschüttert gezeigt und heftig protestiert.
tagesschau.de: Wie bewerten Sie den Gesetzentwurf?
Pollack: Hier hat eine ganz pragmatische Interessenabwägung stattgefunden zwischen dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und medizinischen Bedenken auf der einen Seite; auf der anderen Seite steht das Elternrecht auf Erziehung, die Anerkennung der Beschneidung als einer Jahrtausende alten Tradition und das Recht auf Religionsfreiheit. Das sind Konflikte, die in unserem Rechtsstaat nicht eindeutig gelöst werden können.
Die Regierung hat sich hier für einen Kurs entschieden, der den sozialen Frieden garantieren soll und die Religionsfreiheit nicht einschränkt. Das finde ich richtig. Ich finde auch sehr gut, dass keine Gewissensprüfung stattfindet, Eltern müssen also nicht nachweisen, dass eine Beschneidung aus religiösen Gründen stattfindet. So wird das Thema Religion ein wenig heruntergefahren.
"Organisierte Juden und Muslime neigen zu Empörungsdiskurs"
tagesschau.de: Jüdische und muslimische Gemeinden berichten von einer regelrechten Hetze gegen sie und ihre Religionsausübung seit dem Kölner Urteil. Warum wird dieses Thema so emotional diskutiert - gerade auch von den Kritikern ?
Pollack: Da gibt es mehrere Erklärungen. Zum einen gibt es beim Zentralrat der Juden und bei den organisierten Muslimen eine gewisse Neigung, einen Empörungsdiskurs zu führen. Die in der Gesellschaft durchaus vorhandene Abneigung gegen sie wird eher dramatisiert, damit sie einen guten Grund zum Protest haben.
Auf der anderen Seite bestehen in Deutschland in der Tat sehr starke Vorbehalte gegenüber dem Islam, auch gegenüber dem Judentum, obschon die weniger stark sind. Wir haben in Studien herausgefunden, dass nur etwa 30-35 Prozent der Deutschen eine positive Haltung gegenüber den Muslimen haben. Die große Mehrheit sieht die Muslime insgesamt - also nicht nur die Islamisten - negativ. Mit dem Islam werden Eigenschaften wie Gewaltbereitschaft, Unterdrückung der Frau und Fanatismus assoziiert. Diese Vorbehalte bringen die Schärfe in die Diskussion.
Freilich gibt es auch einen subkultanen Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung. Die Haltung der Deutschen zu den Juden ist nach wie vor durch gewisse Vorurteile charakterisiert. Aber der Antisemitismus hat in Deutschland keine öffentliche Stimme, ist geächtet. Im Gegensatz dazu ist Islamophobie zwar nicht gesellschaftsfähig, aber sie kann sich doch öffentlich artikulieren. Man denke nur an Thilo Sarrazin. Weil der teilweise vorhandene Antisemitismus aber nicht öffentlich artikuliert werden kann, macht er sich in solchen Debatten allerdings umso mehr bemerkbar.
"Aufklärerische Werte als Vehikel der eigenen Vorbehalte"
tagesschau.de: Wer sind die Hauptkritiker in dieser Debatte?
Pollack: Da der Antisemitismus in Deutschland sehr viel weniger ausgeprägt ist als die Islamophobie, sind es meines Erachtens vor allem Islamkritiker. Aber auch potenziell aggressive Humanisten oder Atheisten, also Religionskritiker.
tagesschau.de: Werden hier die Werte der Aufklärung als Vehikel für Antisemitismus und Islamfeindlichkeit missbraucht?
Pollack: Ja. Die Kritiker führen hier Prinzipien ins Feld, die man in der westlichen Welt nicht in Frage stellen kann: Kindeswohl, Meinungsfreiheit, Trennung von Staat und Kirche und so weiter. Natürlich kann man bei der Beschneidung kritisieren, dass das Selbstbestimmungsrecht des Kindes verletzt würde. Meist ist diese Kritik, bei der die aufklärerischen Werte so hoch gehalten werden, aber vor allem ein Weg, die eigenen emotionalen Vorbehalte zu rationalisieren.
"Religion ist in die Öffentlichkeit zurückgekehrt"
tagesschau.de: Ist die Beschneidungsdebatte ein Beispiel für einen generellen Konflikt zwischen säkularen und religiösen Anschauungen?
Pollack: Zunächst mal muss man sagen, dass die antireligiösen Vorbehalte keine Mehrheitsmeinung sind. Die meisten Deutschen sind gegenüber Religion und Kirche recht indifferent. Aber es gibt natürlich Polarisierungen. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Religion in den vergangenen 15 Jahren in die Öffentlichkeit zurückgekehrt ist. Und zwar in erster Linie als ein Thema, das Konflikte auslöst. Das beginnt schon Anfang der 1990er-Jahre mit dem Bosnienkrieg, dann kam der 11. September 2001, die Anschläge von Madrid und London, der Karikaturenstreit und zuletzt das Mohammed-Video.
Die Menschen nehmen wahr, dass Religion oft zu Konflikten führt. Bei Befragungen zeigt sich: Mehr als 70 Prozent sehen die Religion als Ursache für Konflikte in der Welt. Wenn man nach knappen Rohstoffen wie Öl oder Wasser als Konfliktursache fragt, sind das auch nicht mehr als 70 Prozent. Dieses wahrgenommene Konfliktpotenzial von Religionen hat dazu geführt, dass die Gruppe, die religiös indifferent oder areligiös war, aggressiver geworden ist.
Zum anderen ist Religion auch im positiven Sinne öffentlich stärker sichtbar geworden. Die Papstwahl von Benedikt XVI. oder der Tod von Papst Johannes Paul II. wurden beispielsweise in der Presse sehr breit diskutiert und mit sehr anschaulichen Bildern aufbereitet. Es ist ganz logisch, dass so etwas immer auch zu einer Gegenbewegung führt, die das für übertrieben hält und dann eine umso stärkere Religions- oder Kirchenkritik übt.
tagesschau.de: Werden solche religiös aufgeladenen Debatten, wie die über die Beschneidung, auch außerhalb Deutschlands so emotional geführt?
Pollack: So weit ich das überblicken kann, spielt die Beschneidungsdebatte außerhalb Deutschlands keine große Rolle. Wenn darüber berichtet wird, beispielsweise in der BBC, dann immer mit Verweis auf Deutschland und aus einer beobachtenden Position. In Ländern wie Italien oder Polen lässt sich andererseits beispielsweise eine stärkere anti-klerikale Stimmung feststellen als in Deutschland. Das ist eben immer dort besonders stark, wo die Kirche stark mit der politischen Macht verbunden ist.
"Persönliche Kontakte helfen gegen Vorurteile"
tagesschau.de: Wie könnten die Religionskonflikte entschärft werden?
Pollack: Das ist sehr schwierig, wir haben dafür in rechtsstaatlichen Demokratien keine Patentrezepte. Natürlich spielt Bildung und Aufklärung eine große Rolle. Also Versuche, Vorurteile in der Öffentlichkeit und in Bildungsinstitutionen aufzuarbeiten. Andererseits weiß man, dass Vorurteile über rationale Wissensvermittlung gar nicht aufzubrechen sind. Wirksamer sind Kontakte im privaten Umfeld, in der Nachbarschaft. Wer selbst Muslime kennenlernt und sich mit der muslimischen Kultur vertraut macht, wird leichter Vorurteile abbauen. Obwohl es auch Menschen gibt, die sagen, 'dieser Moslem, den ich da kenne, der ist ja die Ausnahme' - und an ihren Vorurteilen festhalten.
Sehr wichtig ist auch eine differenzierte Berichterstattung, die versucht, beiden Seiten gerecht zu werden. Man kann natürlich in den Medien Islamfeindlichkeit scharf kritisieren. Man muss aber auch versuchen, Verständnis dafür aufzubringen. Es gibt in der Welt so viele Konflikte, die durch Religion zumindest befördert werden, da kann man mit gutem Recht auch kritisch gegenüber Religion sein.
Für besonders problematisch halte ich die öffentlichen Diskurse, die jegliches Spannungspotenzial des Islam abstreiten. Wir müssen in einer offenen Diskussion alle Fakten berücksichtigen. Dazu gehört, dass von den rund 50 Ländern, in denen Christen verfolgt werden, 38 Staaten eine muslimische Mehrheit haben. Es ist geradezu arrogant, wenn der Westen immer die Schuld bei sich sucht. Wir müssen mit den Muslimen auf Augenhöhe reden und von ihnen die gleichen Standards einfordern, die wir auch an uns anlegen; alles andere wäre eine Prolongation kolonialistischen Denkens.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de