Interview

Kritik am Bildungspaket "Staatliche Form der Diskriminierung"

Stand: 28.06.2011 16:21 Uhr

Ideologisch geprägt, Blödsinn, an der Praxis vorbei - im Interview mit tagesschau.de kritisiert der hessische Sozialberater Krüger Einzelheiten des Bildungspakets scharf. Bei Schulen und Tagesstätten sieht er enormen Beratungsbedarf. Positiv bewertet Krüger, dass das Bildungspaket verhindern kann, dass sich Armut vererbt.

tagesschau.de: Wie sieht der konkrete Ablauf bisher aus, wenn jemand vom Bildungspaket profitieren will?

Marcus Krüger: Zunächst müssen die Voraussetzungen erfüllt sein. Drei Personengruppen kommen grundsätzlich in Frage: Die klassischen Sozialhilfeempfänger, die Wohngeldempfänger und die Bezieher des Kinderzuschlags. In Hessen war allerdings bis zum Schluss ungeregelt, ob die kommunalen Sozialämter in Sachen Wohngeld und Kinderzuschlag überhaupt zuständig sind. Das ist buchstäblich erst in letzter Sekunde entschieden worden. Die Antragsstellung selbst ist relativ einfach und kann sogar formlos erfolgen, mit einer beigefügten Kopie des Leistungsbescheides.

Das Problem ist aber, das die meisten gar nicht wissen, dass es das Bildungspaket gibt. Immer noch nicht, so paradox das auch klingt. Das gilt nicht nur für die Eltern, sondern auch für die Multiplikatoren, also für Schulen, Kindertagesstätten und Vereine. Der Bedarf an Aufklärung ist enorm.

Zur Person

Seit 1998 berät Marcus Krüger im Sozialbüro Main-Taunus Menschen in sozialen Fragen. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf dem Bereich Existenzsicherung. Er beschäftigt sich mit den Details von Hartz IV und seit dem Frühjahr auch mit dem Bildungspaket. Träger der Beratungsstelle ist der Caritasverband.

tagesschau.de: Das Bildungspaket besteht aus mehreren Bausteinen. Beantragt werden können unter anderem Zuschüsse für ein warmes Mittagessen, für Schulausflüge und für Vereinsbeiträge. In welchem Bereich läuft es besonders unrund?

Krüger: Am problematischsten gestalten sich die zehn Euro Zuschuss für die Vereine. Das klappt am wenigsten, und das hat verfahrenstechnische Gründe. Der Gesetzgeber hat sich bewusst für die Abrechnung zwischen Verein und Sozialamt entschieden. Der Verein muss dem Sozialamt eine Rechnung stellen. Das entsprechende Kind muss also sagen: Lieber Verein, meine Eltern beziehen Hartz IV - stelle bitte dem Sozialamt eine Rechnung. Das ist im Grunde eine Form staatlicher Diskriminierung, die völlig überflüssig ist. Deshalb stellt keiner einen solchen Antrag.

Ich kann die Menschen verstehen, die gezielt gegen diesen Punkt klagen. Im übrigen haben auch die Sozialämter kein Interesse an der Umsetzung, weil der Verwaltungsaufwand so hoch ist. Mir ist nicht klar, was sich die Politik dabei gedacht hat. Das Verfahren ist ideologisch geprägt und geht an der Praxis völlig vorbei. Die Begründung, dass die Eltern das Geld anderweitig verwenden würden, ist völliger Blödsinn und unverantwortlich. Zu argumentieren, die Eltern laufen Gefahr, das Geld ans Büdchen zu tragen, um Alkohol und Zigaretten zu kaufen, ist schlichtweg eine Unverschämtheit.

Im Grunde müsste die Regelung so aussehen: Die Eltern legen die zehn Euro aus, bekommen am Jahresende eine Quittung und lassen sich von den Sozialämtern den Betrag erstatten. Dann wäre alles viel einfacher.

"Lehrer fürs Bildungspaket begeistern"

tagesschau.de: Welche Leistung aus dem Bildungspaket halten Sie für besonders sinnvoll?

Krüger: Endlich ist die Frage der Schülerbeförderung endgültig entschieden. Lange ist darüber gestritten worden, ob Kinder von Hartz-IV-Empfängern eine weiterführende Schule besuchen dürfen und ob sie die Fahrtkosten dafür erstattet bekommen. Diese ganze Diskussion war ein Trauerspiel und ist jetzt ein für allemal vom Tisch. Die Regelung ist ganz klar: Fahrtkosten zur nächstgelegenen weiterführenden Schule werden ohne Wenn und Aber erstattet. Das ist wirklich ein Fortschritt.

Dagegen bleibt das Thema Lernförderung schwierig. Hier müsste die Schule aktiv werden. Die entsprechende Stellungnahme ist Aufgabe des Lehrers oder der Lehrerin und richtet sich an Schüler und Schülerinnen, die in der Versetzung gefährdet sind. Darüber sind die Lehrer aber von ihrer Schulleitung noch nicht informiert worden. Wenn wir es nicht schaffen, die Lehrer für das Bildungspaket zu begeistern und sie darüber aufzuklären, dann kann es auch in diesem Bereich nichts werden.

"Der erste wirksame Ansatz"

tagesschau.de: Das Bildungspaket bedeutet für Sie und Ihre Mitarbeiter mehr Arbeit. Steht da eine Kompensation in Aussicht?

Krüger: Seit fünf Jahren haben wir steigende Beratungszahlen. Der Beratungsbedarf wächst jedes Jahr um fünf Prozent. Dafür haben wir nie eine Kompensation bekommen. Im Grunde kann ich schon froh sein, wenn der Caritasverband und die einzelnen Verbundpartner das Personal weiter zur Verfügung stellen und wir unsere Arbeit fortsetzen können. Damit sind wir schon deutlich besser dran als die Landkreise, in denen es so etwas wie ein Sozialbüro gar nicht gibt.

tagesschau: Wie bewerten Sie das Bildungspaket insgesamt?

Wenn wir die Armutssituation Betroffener nachhaltig überwinden wollen, ist auch ein gering ausgestattetes Bildungspaket der erste wirksame Ansatz, dass Kinder einen anderen Weg als ihre Eltern einschlagen. Das Bildungspaket kann verhindern, dass die Armut sich nicht automatisch von einer Generation auf die nächste vererbt: Auch Kinder armer Eltern sollen in den Sportverein gehen. Auch Kinder armer Eltern sollen in diesem Bildungssystem eine Chance haben.

Die Fragen für tagesschau.de stellte Ute Welty.