Konstituierende Sitzung "Man spürt die Präsenz der AfD"
In der ersten Sitzung des neuen Bundestags sammelt die AfD Abstimmungsniederlagen und empört mit einem Nazi-Vergleich. In der Partei ist man dennoch zufrieden. Für die anderen Abgeordneten ist der Umgang mit den Parlamentsneulingen noch schwer.
Fast teilnahmslos nehmen die Vorsitzenden der AfD-Fraktion ihre Niederlage zur Kenntnis. Dreimal war ihr Kandidat für das Amt des Bundestagsvizepräsidenten, der ehemalige Frankfurter Stadtkämmerer Albrecht Glaser, angetreten. Dreimal hatte er die notwendige Mehrheit deutlich verfehlt. Die AfD steht damit nach der ersten Sitzung des 19. Deutschen Bundestags ohne Vertreter im Parlamentspräsidium da.
Doch sollte dieser Umstand die Fraktionschefs der Partei, Alexander Gauland und Alice Weidel, in irgendeiner Form umtreiben - sie lassen es sich nicht anmerken. Demonstrativ blättert Weidel in ihrem Ordner, als der frisch gewählte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble das Ergebnis des dritten und letzten Wahlgangs verliest. 114 Stimmen für, 545 Stimmen gegen Glaser. Ein eindeutiges Ergebnis.
Dreimal durchgefallen: AfD-Mann Albrecht Glaser.
Absehbare Niederlage
Die Klatsche war abzusehen. Glaser war bereits nach seiner Nominierung vor knapp vier Wochen auf Ablehnung bei den anderen Parteien gestoßen. Die AfD-Fraktion hielt trotzdem an ihm fest - wohl wissend, dass ihr Kandidat kaum eine Chance haben würde, ins Bundestagspräsidium gewählt zu werden, obwohl die Partei laut Geschäftsordnung des Parlaments Anspruch auf diesen Posten hat.
Durch diese Konstellation hatte die AfD nichts zu verlieren. Wäre Glaser gewählt worden, hätte sie ihren Vertreter durchgebracht. Seine Ablehnung hingegen gibt der AfD einmal mehr die Möglichkeit, sich als Opfer der anderen Parteien darzustellen - eine Pose, mit der sie im Wahlkampf gut gefahren ist.
"Ich fand's gut"
Als Niederlage will die Fraktion Glasers Durchfaller dann auch nicht verstanden wissen. "Interessant" sei die konstituierende Sitzung des Bundestag gewesen, sagt Fraktionschef Gauland nach Ende seiner Plenumspremiere beim Empfang für die neuen Abgeordneten auf der Fraktionsebene im Reichstagsgebäude zu tagesschau.de. Wie es mit Glaser weitergehe, darüber müsse nun die Fraktion beraten. Andere Mitglieder sehen den Tag noch deutlich positiver. "Ich fand’s gut", sagt der Abgeordnete Martin Renner zu tagesschau.de. Glaser habe immerhin rund 20 Stimmen mehr bekommen, als die AfD Sitze im Bundestag hat.
Doch die Personalie Glaser ist nicht die einzige Niederlage, die die AfD an ihrem ersten Sitzungstag im Bundestag wegstecken muss. Das neue Parlament ist gerade einmal eine Minute eröffnet, da werden die Neulinge das erste Mal überstimmt. Ihr Antrag, die Leitung der konstituierenden Sitzung einem Versammlungsleiter und nicht Alterspräsident Hermann Otto Solms zu überlassen, wird mit den Stimmen der anderen fünf Fraktionen abgelehnt. Ein erster Vorgeschmack auf die Oppositionsrolle in den kommenden vier Jahren.
FDP-Politiker Solms eröffnete die Sitzung.
Solms warnt vor Ausgrenzung
Solms hatte zuvor in seiner Eröffnungsrede darauf hingewiesen, dass die "politischen Rollen" im Parlament durch die Bundestagswahl "neu verteilt" seien. "Diese Entscheidung der Wähler haben wir zu akzeptieren", so der FDP-Politiker. Ohne die AfD namentlich zu nennen warnte er davor "Sonderregelungen zu schaffen, auszugrenzen oder gar zu stigmatisieren" - und erntete dafür Applaus von der AfD-Fraktion.
Als Alterspräsidenten will die Partei Solms trotzdem nicht behalten. Als das Plenum über die Geschäftsordnung des Bundestags befindet, stellt Bernd Baumann, Parlamentarischer Geschäftsführer der AfD-Fraktion, erneut den Antrag, die Alterspräsidentenregelung zu ändern.
AfD provoziert mit Nazi-Vergleich
Seit der Paulskirchenversammlung 1848 habe es Tradition, dass der älteste Abgeordnete das Parlament eröffne, so Baumann, nicht der Dienstälteste, wie es Union und SPD in der vergangenen Legislaturperiode mit Blick auf einen möglichen Alterspräsidenten von der AfD bestimmt hatten. Lediglich eine Ausnahme von dieser Regel habe es gegeben, sagt Baumann: "1933 hat Hermann Göring die Regel gebrochen, weil er politische Gegner ausgrenzen wollte - damals Clara Zetkin. Wollen Sie sich auf solch eine schiefe Bahn begeben? Kommen Sie zurück auf die Linie aller großen deutschen Demokraten", so Baumann.
Damit hat der neue Bundestag seinen ersten Eklat. Die AfD rückt die anderen Bundestagsparteien in die Nähe der Nazis - auch wenn die KPD-Abgeordente Zetkin dem Reichstag nach den Wahlen im März 1933 gar nicht mehr angehörte. An der Bewertung änderte dieser Umstand nichts. Eine "Geschmacklosigkeit" sei der Vorwurf, sagt FDP-Politiker Marco Buschmann. Folgen hat sie nicht. Der AfD-Antrag wird - wie auch andere Anträge zur Geschäftsordnung - mit den Stimmen von Union, FDP und Grünen, in den Ältestenrat überwiesen. Jamaika stimmt bereits gemeinsam ab.
Schäuble bleibt gelassen
Die Anwesenheit der AfD ist jedoch nicht nur durch ihre Anträge spürbar. Die Neuen zeigen auch durch kleine Gesten, dass sie nicht wirklich dazugehören wollen. Als Wolfgang Schäuble zum neuen Bundestagspräsidenten gewählt wird, gratulieren die AfD-Fraktionschefs Alexander Gauland und Alice Weidel etwas widerwillig. Auch den üblichen Blumenstrauß haben sie nicht dabei.
Schäuble sieht's gelassen. Überhaupt ruft er in seiner Rede zu einem geschmeidigen Umgang mit dem politischen Gegner auf. Er könne sich noch an die Debatten über die Ostpolitik der Regierung Brandt erinnern, sagt er, und an die heftigen Auseinandersetzungen über den NATO-Doppelbeschluss. "Vieles wird in der Rückschau anders bewertet als mitten im Streit", so Schäuble.
"Prügeln sollten wir uns hier nicht"
Auch heute sei der Ausgleich von Interessen schwierig. "Da darf Streit nicht nur sein, das geht nur über Streit", so Schäuble - und rief dazu auf, die Meinungsverschiedenheiten zivilisiert auszutragen. "Prügeln sollten wir uns hier nicht", so Schäuble.
Trotzdem weist der Parlamentspräsident darauf hin, wie ungewöhnlich dieser 19. Bundestag ist. "Sieben Parteien und sechs Fraktionen: So viele gab es seit 60 Jahren nicht mehr." Schäuble weiter: "Diese neue Konstellation hier im Haus spiegelt die Veränderungen wider, die unsere Gesellschaft erlebt." Wichtig sei, ein "offenes Ohr" für die Argumente des Anderen zu haben. "In anerkennen mit seiner anderen Meinung."
Schwieriger Umgang
In den Sitzungspausen zeigt sich jedoch, wie schwer vielen Abgeordneten diese Anerkennung noch fällt. Der Umgang mit den neuen Kollegen von der AfD ist Dauerthema auf den Fluren rund um den Plenarsaal. Man müsse die Geschäftsordnung jetzt genau studieren, um die AfD in Zaum halten zu können, findet ein erfahrener Abgeordneter. Andere betonen, wie sehr sich die Stimmung im Plenum verändert habe.
"Man spürt die Präsenz der AfD", sagt Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth nach Ende der Sitzung zu tagesschau.de. Das habe schon der erste Redebeitrag der Partei, Baumanns Göring-Vergleich, gezeigt. Der weitere Umgang mit den Neulingen werde zur Herausforderung für die anderen Fraktionen. "Wir müssen sehr aufmerksam in die Debatten gehen", so Roth weiter. Sonderregelungen für den Umgang mit der AfD lehnt sie ab, es brauche allerdings eine klare "Abgrenzung".
AfD bleibt unter sich
Dafür sorgen die Neuen teils schon selbst. In den Sitzungspausen zeigt sich, wie sehr die AfD-Abgeordneten noch mit dem ungewohnten Umfeld im Reichstagsgebäude fremdeln. Während viele Parlamentsmitglieder in den Sitzungsunterbrechungen über die Parteigrenzen hinweg in kleinen Gruppen zusammenstehen, bleiben die AfD-Politiker ganz überwiegend unter sich. Auch Fraktionschef Gauland sitzt in der Kantine im Reichstagsgebäude mit einem Kollegen etwas abgeschieden, ganz außen an der Wand.
Kurz darauf bekommt Gauland auch im Plenum zu spüren, wie isoliert seine Partei im Bundestag ist. Gerade einmal 115 Stimmen bekommt AfD-Kandidat Glaser im ersten Wahlgang für den Posten des Bundestagsvizepräsidenten - weit entfernt von den notwendigen 355. Gauland und seine Co-Fraktionschefin Weidel nehmen das Ergebnis stoisch zur Kenntnis. Es ändert nichts. Glaser fällt auch im zweiten Wahlgang deutlich durch, bekommt nur 123 Stimmen. Der Kandidat selbst nimmt es gelassen. Als Bundestagspräsident Schäuble das Ergebnis verkündet, schlendert Glaser telefonierend durch den hinteren Bereich des Plenums.