Blick in den Plenarsaal bei der konstituierende Sitzung am 22. Oktober 2013

20 Jahre nach erster Sitzung Ist der Reichstag bald zu klein?

Stand: 19.04.2019 10:06 Uhr

20 Jahre nach dem Umzug nach Berlin sitzen im Bundestag viel mehr Abgeordnete als ursprünglich vorgesehen. Alle Versuche, das Parlament zu verkleinern, sind gescheitert. Am Pranger steht die Union.

Als am 19. April 1999 der Bundestag seine erste Debatte im renovierten Reichstag abhielt, da stritten die Parteien über den Namen für das Gebäude. Man einigte sich auf einen Kompromiss: Nicht Reichstag, nicht Bundestag - bis heute heißt es offiziell "Plenarbereich Reichstagsgebäude". 20 Jahre später sitzen hier so viele Abgeordnete wie nie zuvor. Zwar sind sich alle Parteien einig, dass der aufgeblähte Bundestag verkleinert werden muss - seit Jahren können sie sich aber auf keine Lösung verständigen.

Wegen des komplizierten Wahlrechts sitzen statt der vorgesehenen 598 derzeit 709 Parlamentarier im Bundestag. Die höhere Zahl kommt durch Überhang- und Ausgleichsmandate zustande. Bei der nächsten Wahl könnten es sogar deutlich mehr als 800 Abgeordnete sein. Das würde nicht nur sehr teuer, sondern auch die Arbeitsfähigkeit des Parlaments gefährden. Denn es steigt nicht nur die Zahl der Abgeordneten, die Diäten beziehen, sondern auch die der Mitarbeiter, die alle bezahlt und untergebracht werden müssen.

Schäuble: "Scheitern nicht erklärbar"

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hatte im vergangenen Jahr eine Wahlrechtsreform versprochen, nachdem sein Vorgänger Norbert Lammert damit gescheitert war. "Der Bundestag kann nicht erklären, er könne das Wahlrecht nicht ändern, weil man halt keine Lösung finde." Das werde die Öffentlichkeit nicht akzeptieren, appellierte Schäuble an die Parteien.

Doch Anfang April musste er eingestehen: Auf einen überparteilichen Kompromiss konnte er sich in einer Kommission mit Vertretern der im Bundestag vertretenen Parteien auch in dieser Legislaturperiode nicht einigen.

300 zusätzliche Abgeordnete bei nächster Wahl?

Schuld an der Misere sind die Überhangmandate, die wegen des zersplitterten Wahlverhaltens entstehen. Und zwar dann, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als ihr Sitze nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen.

So gewannen CDU und CSU 2017 beispielsweise in Baden-Württemberg und Bayern alle Direktmandate - 18 Mandate mehr als durch das Zweitstimmenergebnis abgedeckt. Bundesweit bekam die Union so gar 43 Überhangmandate, die SPD drei.

Weil solche Überhangmandate die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag verzerren, erklärte das Bundesverfassungsgericht das geltende Wahlrecht 2012 für verfassungswidrig. Seitdem werden alle Überhangmandate zugunsten der anderen Fraktionen ausgeglichen. So konnten in dieser Legislaturperiode 111 zusätzliche Abgeordnete ins Parlament einziehen.

Da sich das Parteienspektrum immer mehr auffächert, könnte der kommende Bundestag nach Einschätzung von mehreren Forschungsinstituten um 200 oder gar 300 Abgeordnete über der Normgröße liegen.

Grüne, FDP und Linkspartei sind sich einig

Um das zu verhindern wollen Grüne, FDP und Linkspartei das Verhältnis von Listen- und Direktmandaten und das Zuteilungsverfahren ändern sowie die Zahl der Wahlkreise reduzieren. "Mit diesen drei Schritten könnten die Überhangmandate bis auf Null gesenkt werden", sagt Friedrich Straetmanns, der für die Linkspartei in der Reformkommission sitzt, im Gespräch mit tagesschau.de.

Ein Vorschlag, mit dem sich möglicherweise auch die SPD anfreunden könnte, allerdings will man dort "die Lage neu bewerten", wie der Parlamentarische Geschäftsführer Carsten Schneider mitteilte.

CDU/CSU lehnen Wahlkreisreduzierung ab

Die Union lehnt hingegen eine Reduzierung der Wahlkreise ab, weil diese dadurch zu groß würden. Der Justiziar der CDU/CSU-Fraktion, Ansgar Heveling, äußerte gegenüber tageschau.de die Befürchtung, dies würde die Distanz der Bürger zur Politik vergrößern.

Die AfD will die Zahl der Direktmandate beschränken. "Sollten mehr Direktbewerber einen Wahlkreis gewonnen haben als einer Partei nach dem Zweitstimmenergebnis Mandate zustehen, sind diejenigen Direktbewerber mit den relativ schlechtesten Stimmergebnissen von der Zuteilung eines Mandats ausgeschlossen", schlägt Parteivize Albrecht Glaser vor.

Bundestagspräsident Thierse mit dem symbolischen Schlüssel. Links: Bundespräsident Roman Herzog, hinten rechts: Helmut Kohl, vorne rechts: der Architekt Norman Foster und daneben der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder

Am 19. April 1999 erhielt der damalige Bundestagspräsident Thierse aus den Händen von Architekt Foster (ganz rechts) den symbolischen Schlüssel für das Parlamentsgebäude.

Schäubles neuer Vorschlag stößt auf Ablehnung

Bundestagspräsident Schäuble hat den Fraktionen nun einen Vorschlag übermittelt, der parteiübergreifend aus unterschiedlichen Gründen auf Ablehnung stößt: Die Zahl der Wahlkreise soll demnach von 299 auf 270 verringert und bis zu 15 Überhangmandate sollten nicht ausgeglichen werden.

Zwar sieht die SPD "grundsätzlich Chancen für eine Einigung", wie Schneider gegenüber tagesschau.de betont. Die Basis für eine solche Einigung könne allerdings nicht ein Vorschlag sein, der einseitig eine Partei oder Fraktion bevorteile. Britta Haßelmann, die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, kritisiert die Union: Sie sei bislang nicht bereit gewesen, sich auf echte Lösungen einzulassen. "Sie muss ihre Blockade auflösen, anstatt Vorschläge zu unterbreiten, von denen ausschließlich die Union profitieren würde."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 19. April 2019 um 09:05 Uhr in der Sendung "Kalenderblatt".