Bundesverfassungsgericht "Recht auf Vergessen" - mit Einschränkungen
Das Internet vergisst nichts - und das kann ein Problem sein. So wie im Fall eines verurteilten Straftäters. Anhand seines Falls präzisierte das Verfassungsgericht nun das "Recht auf Vergessen".
Paul T. hat im Jahr 1981 zwei Menschen erschossen, mit denen er an Bord einer Segelyacht auf hoher See unterwegs war. Dafür wurde er später wegen zweifachen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Über den spektakulären Mordprozess berichteten damals zahlreiche Medien. Auch im Nachrichtenmagazin "Spiegel" erschienen mehrere Artikel. Darin wurde der volle Name von Paul T. genannt. Inzwischen sind die alten Ausgaben des "Spiegel" digitalisiert und online verfügbar. Wer heute den vollständigen Namen des Mannes in eine Internet-Suchmaschine eingibt, gelangt schnell zu den damaligen "Spiegel"-Artikeln.
Nachträgliche Anonymisierung?
Inzwischen ist der Verurteilte wieder auf freiem Fuß und verlangt vom "Spiegel" die nachträgliche Anonymisierung - bislang ohne Erfolg. Nun aber hat das Bundesverfassungsgericht ihm teilweise Recht gegeben: Die Gerichte hätten zumindest prüfen müssen, ob dem "Spiegel" nicht zuzumuten wäre, die Auffindbarkeit der Artikel über den vollständigen Namen von T. zu erschweren.
In einem zweiten Fall ging es um einen Fernsehbericht des NDR-Magazins Panorama mit dem Titel "Die fiesen Tricks der Arbeitgeber". Die Geschäftsführerin eines Unternehmens hatte für diesen Beitrag zuvor ein Interview gegeben. Wer bei Google nach dem Namen der Frau suchte, gelangte schnell zu einem Transkript des Beitrages. Die Frau klagte gegen den Suchmaschinenbetreiber auf Entfernung des Links aus den Suchergebnissen. Vor dem Oberlandesgericht Celle hatte sie damit keinen Erfolg. Zu Recht, sagte in diesem Fall das Bundesverfassungsgericht.
Persönlichkeitsrecht vs. Pressefreiheit
In den geschilderten Fällen stehen sich verschiedene Grundrechte gegenüber: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die Rechte von Privatpersonen, wenn Informationen verbreitet werden, die "geeignet sind, die Persönlichkeitsentfaltung erheblich zu beeinträchtigen". Demgegenüber können sich Nachrichtenmagazine wie der "Spiegel" und Rundfunkanstalten wie der NDR auf Meinungs- und Pressefreiheit berufen. Auch Google hat als Betreiber einer Online-Suchmaschine unternehmerische Freiheit.
Grundsätzlich gelten diese Grundrechte im Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Allerdings können sie nach der Rechtsprechung aus Karlsruhe auch mittelbar zwischen privaten Personen und Unternehmen wirken. Das sei hier der Fall. Die Grundrechte der unterschiedlichen Parteien müssten in solchen Fällen gegeneinander abgewogen werden. Die Frage, ob es ein "Recht auf Vergessenwerden" gibt, steht also immer im Spannungsverhältnis zwischen allgemeinem Persönlichkeitsrecht einerseits und Meinungs- und Pressefreiheit andererseits. Die Gerichte müssen von Fall zu Fall unterscheiden, welcher Seite der Waage mehr Gewicht zukommt.
Dazu sagt Karlsruhe: Auf der einen Seite habe jeder das Recht, frühere Fehler hinter sich zu lassen. Die Rechtsordnung müsse grundsätzlich gewährleisten, dass eine Person sich frühere Handlungen nicht unbegrenzt öffentlich vorhalten lassen muss. Allerdings könnten die Betroffenen nicht einseitig entscheiden, welche Informationen der Öffentlichkeit zugänglich sind und welche nicht. Bei Berichterstattung über Kriminalfälle etwa, sei eine Namensnennung des Täters grundsätzlich durchaus gestattet. Vor allem dann, wenn es ein rechtskräftiges Urteil gibt. Auch der Zugang nach vielen Jahren sei oft wichtig als Quelle für journalistische und zeithistorische Recherchen und für Bildung und Erziehung von Bedeutung.
Online-Namenssuche muss erschwert werden
So sagt Karlsruhe im heutigen Beschluss auch nicht, dass der "Spiegel" die alten Artikel anonymisieren muss. Allerdings hätte im Fall von Paul T. geprüft werden müssen, ob das Nachrichtenmagazin so lange nach der Tat die Auffindbarkeit der Artikel über Online-Namenssuchen hätte erschweren müssen. Im Falle des NDR-Beitrags, der aus dem Jahre 2010 stammt, sei es anders: Dieser Beitrag und sein Transskript dürfe grundsätzlich von Google nach einer Namenssuche zumindest zum jetzigen Zeitpunkt angezeigt werden. Hier überwiege das Informationsinteresse der Öffentlichkeit.
Das Bundesverfassungsgericht hat bei seinen Beschlüssen ganz ausdrücklich berücksichtigt, dass durch die modernen Möglichkeiten, die das Internet bietet, Informationen dauerhaft verfügbar sind. Beiträge und Artikel können über Online-Archive sehr viel länger der Öffentlichkeit angeboten werden. Früher stand dagegen die Berichterstattung in Zeitschriften oder im Rundfunk meist nur kurzzeitig zur Verfügung. Dem "Recht auf Vergessenwerden" kommt darum im Internet-Zeitalter eine ganz besondere Bedeutung zu.
Beschluss ergänzt EuGH-Rechtsprechung
Schon 2014 hat der Europäische Gerichtshof in einem Fall aus Spanien wegweisend entschieden, dass es ein "Recht auf Vergessenwerden" gibt. Im Ergebnis ergänzen die heutigen Beschlüsse aus Karlsruhe dieses EuGH-Urteil. Sie vertiefen es gewissermaßen für Deutschland: Maßgeblich für den EuGH ist EU-Recht, etwa die EU-Grundrechtecharta oder EU-Datenschutzrecht. Karlsruhe prüft grundsätzlich am Maßstab des Grundgesetzes.
In Fällen, für die es EU-weit einheitliches Recht gibt, haben aber die EU-Grundrechte Vorrang vor den deutschen Grundrechten. Das Verfassungsgericht hat darum im Fall der Arbeitgeberin im NDR-Beitrag erstmals eine Verfassungsbeschwerde allein am Maßstab der EU-Grundrechte geprüft. Im Falle des verurteilten Mörders Paul T. ist es anders. Denn: Die EU-weit geltende Datenschutzgrundverordnung gibt den nationalen Staaten Spielraum, wenn es um die Rechte von Medien im Umgang mit persönlichen Daten geht. Darum haben die EU-Grundrechte in diesen Fällen keinen Vorrang. Hier prüfte Karlsruhe also vor allem anhand der Grundrechte aus dem Grundgesetz.
Az: 1 BvR 16/13 und Az: 1 BvR 276/17