Demonstrant in Chemnitz tritt mit einem Plakat für den Rechtsstaat und gegen Selbstjustiz ein
Interview

Ausschreitungen in Chemnitz "Die meisten hier sind Demokraten"

Stand: 28.08.2018 14:23 Uhr

Rechte Gewalt in Chemnitz sei ein Problem aus den 1990er-Jahren, sagt Michael Nattke im tagesschau.de-Interview. Die meisten Chemnitzer seien demokratisch gesonnen. Sie müssten sich nun aber zeigen.

tagesschau.de: Wie haben Sie die Situation gestern erlebt?

Michael Nattke: Es war beunruhigend zu sehen, und es war beunruhigend, dass die Polizei im Vorfeld in ihrer Lageeinschätzung so danebenlag. Ich kann den Polizistinnen und Polizisten vor Ort überhaupt keinen Vorwurf machen. Die haben hervorragende Arbeit geleistet und versucht, das, was ging, möglich zu machen. Aber die Polizei war total unterbesetzt - und das bei den Erfahrungen der letzten Jahre in Sachsen. Das ist schon traurig.

tagesschau.de: Woran lag das?

Nattke: Ich glaube inzwischen, dass die Analyseabteilung bei der Polizei und den Sicherheitsbehörden in Sachsen unzureichende Arbeit leistet. Wir haben in Chemnitz seit Jahren funktionierende Hooligan-Strukturen. Beispielsweise die Gruppe HooNaRa - kurz für Hooligans, Nazis, Rassisten - die sind bundesweit vernetzt. Dann sind da die Nationalen Sozialisten Chemnitz aufgetreten, eine inzwischen verbotene und stark vernetzte Neonazi-Organisation. Wenn man eins und eins zusammenzählt, muss man im Vorfeld zu der Einschätzung kommen, dass dort vor Ort eine große Anzahl gewaltbereiter Neonazis zusammenkommt.

Denn das wurde bundesweit über soziale Medien in einschlägigen Neonazi-Portalen beworben. Es war von vornherein klar, dass viele verschiedene Neonazis aus den neuen Bundesländern und aus Bayern anreisen werden – für uns war das keine Überraschung.

Die sächsische Polizei fuhr Wasserwerfer auf, um bei einer Eskalation vorbereitet zu sein.

Die sächsische Polizei fuhr Wasserwerfer auf, um bei einer Eskalation vorbereitet zu sein.

tagesschau.de: Welche Gruppen sind ihnen besonders aufgefallen?

Nattke: Es gab einen eigenen Block in der Demonstration von der Neonazi-Partei "Der dritte Weg", der auch Pyrotechnik gezündet hat. Es waren NPD-Funktionäre aus Sachsen vor Ort, insbesondere aus dem Erzgebirge, die rechtsextreme Identitäre Bewegung war zugegen, und wir haben vereinzelt auch AfD-Funktionäre gesehen. Die Berliner AfD-Referentin Leyla Bilge etwa. Außerdem einzelne AfD-Mitglieder aus Chemnitz, aber momentan werten wir noch Bildmaterial aus, um zu sehen, ob weitere AfD-Funktionäre vor Ort waren.

tagesschau.de: In welchen Zusammenhang standen die Fußballfans mit ihnen?

Nattke: Die sind innerhalb der Szene sehr gut vernetzt. Die Fußballfans halten wir auch für verantwortlich dafür, dass eine solche Dynamik in der Mobilisierung entstehen konnte. Die haben so etwas in Fußballzusammenhängen erprobt, damit können sie es auch für politische Aktivitäten verwenden.

Zur Person
Michael Nattke ist Fachreferent im Kulturbüro Sachsen. Das Kulturbüro Sachsen e.V. berät seit 2001 lokale Vereine, Jugendinitiativen, Kirchengemeinden, Netzwerke, Firmen sowie Kommunalpolitik und -verwaltung in Sachsen mit dem Ziel, rechtsextremistischen Strukturen eine aktive demokratische Zivilgesellschaft entgegenzusetzen. Als Jugendlicher in den 1990er-Jahren war Nattke für kurze Zeit selbst in der Neonazi-Szene unterwegs.

tagesschau.de: Was wollen die Demonstranten, die in Chemnitz aufgetreten sind, erreichen?

Nattke: Einer der Redner in Chemnitz, Martin Kohlmann, ein Rechtsanwalt, der unter anderem die Terroristen der Gruppe Freital vor Gericht verteidigt hat, sagte gestern: "Die nächste Wende muss gründlicher sein, viel gründlicher, wir müssen richtig aufräumen." Die Menge, die vor ihm stand, antwortete daraufhin mit Sprechchören. Also ein Aufruf, das politische System umzustürzen.

tagesschau.de: Worüber beklagen sich die Menschen in Chemnitz eigentlich?

Nattke: Es gibt einen tief sitzenden Rassismus bei einigen Menschen. Bei bestimmten Anlässen kommt der zum Ausbruch. Zudem gibt es Menschen, die sich abgehängt fühlen - auch, wenn sie gar nicht abgehängt sind.

tagesschau.de: Wie erleben Chemnitzer die derzeitigen Ereignisse?

Nattke: Chemnitz ist ja eine relativ große Stadt mit mehr als 200.000 Einwohnern, und letztlich waren hier 5000 Rechte auf der Straße. Die bilden also nicht die  Mehrheit. Und es gab Gegendemonstranten. Die meisten Chemnitzer sind Demokratinnen und Demokraten. Die müssen jetzt nur auch ihr Gesicht zeigen. Solche Ausschreitungen wie in Chemnitz könnten wir auch in anderen Städten erleben. Vorstellbar wäre das auch in Rostock, Magdeburg oder Cottbus - durch die Hooligan-Gruppen der jeweiligen Fußballvereine.

Menschen entzünden Kerzen und legen Blumen in Chemnitz nieder.

Die Gewalt entzündete sich am Todesfall eines 35-Jährigen in Chemnitz.

tagesschau.de: Gab es zu DDR-Zeiten schon Hinweise darauf, dass rechtsextreme Gruppen in Chemnitz gedeihen?

Nattke: Ja, schon zu DDR-Zeiten gab es rechte Gruppen, die immer wieder geleugnet wurden von der Staatsführung, weil es das nicht geben durfte. Mit den Vorfällen in Hoyerswerda 1991 wurde sehr deutlich, wozu die Rechten und Neonazis fähig sind. Diejenigen, die damals die Molotow-Cocktails auf Unterkünfte von Asylbewerbern geworfen haben, waren Leute, die zu jener Zeit schon dort gelebt haben und dort aufgewachsen sind. In den 1990er-Jahren wurde aber im Umgang mit den Menschen sehr viel falsch gemacht.

tagesschau.de: Was genau?

Nattke: Damals gab es in der Jugendsozialarbeit den akzeptierenden Ansatz. Man hat die politische Ausrichtung der Jugendlichen ignoriert in der Hoffnung darauf, dass sie dann von allein den Weg der Demokratie beschreiten. Das hat sich als Trugschluss erwiesen, denn die Pegida-Gruppen, die wir heute erleben mit Mitgliedern in ihren Vierzigern - das ist genau die Generation von damals.

tagesschau.de: Am Nachmittag ist eine Demonstration in Dresden geplant – müssen wir da mit ähnlichen Ausschreitungen rechnen wie in Chemnitz?

Nattke: Wegen der Uhrzeit haben wir nicht mit einem so großen Aufmarsch zu rechnen. Aber für den kommenden Samstag hat die AfD zusammen mit Pegida dazu aufgerufen, nach Chemnitz zu fahren, und dann könnte es gefährlich werden.

Das Interview führte Maiken Nielsen, tagesschau.de