Historiker zum Unionsstreit "Gegenseitig beschädigt und hinuntergezogen"
Durch den Asylstreit ist das Verhältnis zwischen Kanzlerin Merkel und CSU-Chef Seehofer nach Einschätzung des Historikers Paul Nolte "unrettbar zerrüttet". Er sieht das politische Ende der beiden eingeläutet.
tagesschau.de: Herr Nolte, die Initiative zum Asylstreit ging von der CSU aus. Nach der Einigung mit der CDU scheinen alle in der Partei zufrieden zu sein. Wie würden Sie den Zustand in der CSU beschreiben?
Paul Nolte: Der Zustand ist zwar noch undurchschaubar, aber die Partei ist immer noch hoch verunsichert. Die CSU ist in große Irritationen gekommen durch den angekündigten und dann doch nicht vollzogenen Rücktritt ihres Parteivorsitzenden und Innenministers Seehofer am Tag vor der Einigung. Das ist eine Schockwelle für die Partei. Es hat ja durchaus Signale in der Partei gegeben, dass manche einen Rücktritt Seehofers zugunsten eines Zusammenhalts der Unionsparteien in Kauf nehmen würden. Es sind Risse entstanden, die geklebt werden oder verheilen müssen.
Der Historiker Paul Nolte ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. Er wurde 1963 in Geldern geboren. Er ist Vertrauensdozent der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin.
Mutig, aber nicht unbedingt richtig
tagesschau.de: Welche Rolle spielt der Asylstreit für die CSU im Hinblick auf die Landtagswahl im Herbst in Bayern?
Nolte: Die CSU hat sich selber entschieden, den Asylstreit in den Mittelpunkt des bayerischen Wahlkampfes zu stellen. Ob das eine richtige Entscheidung war, wird man erst am Wahlabend sehen. Die CSU hat sich vor allen Dingen wegen der Bedrohung durch die AfD entschieden, das Thema frontal anzugehen und nicht zu einem Seitenthema zu machen. Das hätte es durchaus auch werden können, denn die Flüchtlingszahlen gehen zurück. Insbesondere lässt die Problematik an der bayerisch-österreichischen Grenze nach. Den "Stier AfD" bei den Hörnern zu packen, ist vielleicht mutig, aber nicht unbedingt die richtige Entscheidung gewesen.
tagesschau.de: Aber immer wieder wird das Zitat von Franz Josef Strauß bemüht, in dem er sagte, rechts von der CSU dürfe es keine demokratisch legitimierte Partei geben. Welche Gefahr stellt die AfD für die CSU in Bayern dar?
Nolte: Die Neigung der bayerischen Bevölkerung, zur AfD abtrünnig zu werden, scheint mir für die CSU nicht deutlich größer als für die CDU in anderen Bundesländern. Aber in Bayern ist jetzt eben die Landtagswahl. Es gibt jedoch zwischen der bayerischen CSU und der bundesweiten CDU einen grundsätzlichen Unterschied. Für die CDU ist die AfD eine Partei, die mit ihr und ihrem demokratischen Spektrum überhaupt gar nichts zu tun hat. Die CDU positioniert sich auch deshalb eindeutig abgrenzend gegenüber der AfD. Die CSU empfindet die AfD offenbar mehr als Fleisch vom eigenen Fleische, mehr auch als eine Partei, die auch von ihr als berechtigt angesehene Anliegen vertritt - in der Migrationspolitik zum Beispiel sowie in der Europapolitik. Und deshalb empfindet die CSU die AfD stärker als Konkurrenz. Das müsste angesichts des ansonsten ganz breiten Volksparteicharakter, den die CSU in Bayern hat, gar nicht unbedingt so sein. Insofern verengt sich die Perspektive der CSU auf die AfD, was nicht unbedingt zum Vorteil der CSU ausschlagen muss.
Bundesinnemnister Horst Seehofer und Kanzlerin Angela Merkel - "ein unrettbar gestörtes, zerrüttetes Verhältnis", sagt Nolte.
Stärkere Bruchzonen in der Union
tagesschau.de: Ist die CSU noch ein verlässlicher Partner für die CDU?
Nolte: Die Bruchzonen sind schon stärker geworden. Die CSU hat ja immer schon - auch schon zu Zeiten von Helmut Kohl und Strauß und vorher auch schon - für die CDU die Funktion erfüllt, gerade bei Bundestagswahlen auf nationaler Ebene den konservativeren Flügel abzudecken. Das ist sicherlich der Merkel-CDU und wäre auch einer Nach-Merkel-CDU ganz recht. Diese Rollenverteilung im politischen Spektrum zwischen dem eher liberal-konservativen und dem etwas prononcierter-konservativen Bereich hat jetzt doch eine neue Dimension angenommen. Sie wird das Bündnis und das Verhältnis der beiden Parteien langfristig noch einmal vor Herausforderungen stellen. Es ist schon jetzt erkennbar, dass die überwiegende Mehrzahl der Politiker, die nach Merkel kommt, - ob nun Annegret Kramp-Karrenbauer oder Armin Laschet oder Julia Klöckner - für eine liberale CDU stehen. Diese Auseinanderentwicklung ist stärker ist als noch zu Zeiten von Kohl und Strauß. Durch diese Spannung gibt es noch einiges zu tun.
Unrettbar gestörtes Verhältnis zwischen Merkel und Seehofer
tagesschau.de: Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Merkel und Seehofer?
Nolte: Es ist ein unrettbar gestörtes, zerrüttetes Verhältnis. Nur kann man in der Politik eben nicht so leicht die Konsequenz ziehen, die man im privaten Leben zieht, und sich scheiden lassen. Also werden die beiden noch irgendwie ausharren müssen. Jeder der beiden hat wohl die Hoffnung, den anderen zu besiegen oder mindestens zu überdauern. Im Moment haben sich beide gegenseitig beschädigt und gegenseitig hinuntergezogen. Spätere Historiker werden vielleicht einmal sagen: Das war ein gemeinsamer, ein verflochtener Abgang zweier Politiker, die mehr als anderthalb Jahrzehnte ineinander verhakt waren. Es muss ja nicht ein Rücktritt am selben Tag sein.
tagesschau.de: Also gilt die zuletzt häufig zitierte Schicksalsgemeinschaft von CDU und CSU auch für Merkel und Seehofer im Speziellen?
Nolte: Ja, das gilt für Merkel und Seehofer schon deshalb, weil sich beider Karrieren aufgrund der langen Amtszeiten, die sie schon gehabt haben, irgendwann zum Ende neigen. In Bayern hat Seehofer nach langem Zögern das Amt des Ministerpräsidenten an Söder abgegeben. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er auch den Parteivorsitz abgibt. Und ebenso neigt sich auch eine Kanzlerschaft Merkel in der vierten Legislaturperiode offensichtlich dem Ende entgegen.
tagesschau.de: Was bedeutet die Einigung in der Union für die künftige Arbeit Seehofers als Innenminister?
Nolte: Noch ist das nicht so klar. Bislang sind die europäischen Fragen noch ausgeklammert. Klar ist nur, dass die drei Punkte die Handschrift von Seehofer tragen. Das Papier ist ja geradezu fixiert auf die deutsch-österreichische, nein: auf die bayerisch-österreichische Grenze. Daran spiegelt sich das Seehofer‘sche Trauma aus dem Jahr 2015, als die Flüchtlinge über diese Grenze gekommen sind. Mittlerweile haben wir es mit völlig anderen Problematiken zu tun: mit der europäischen Verteilung, mit den Flüchtlingsschiffen, die in Italien, Malta und Spanien anlanden. Mir ist jedenfalls noch nicht klar, wie dieses Drei-Punkte-Arrangement eine Antwort auf diese Fragen geben soll. Dürfen wir daraus folgern, dass künftig alle Flüchtlinge oder "Sekundärmigranten" - etwa auch solche von der "Lifeline" - in ein bayerisches Transitzentrum kommen? Dann hätten sich Seehofer und das Land Bayern eine nationale Verantwortung für den Betrieb solcher Zentren und für die Erstaufnahme von Flüchtlingen aufgehalst, bei der ich gar nicht weiß, ob das in seiner Absicht lag. Seehofers triumphierende Attitüde bei der Präsentation des Kompromisses wird sich noch als voreilig erweisen.
Das Gespräch führte Günter Marks, tagesschau.de