ARD-DeutschlandTrend Ja zu Europa, Nein zu Hilfen für Euro-Länder
Die Euro- und Schuldenkrise beunruhigt die Deutschen. Eine große Mehrheit befürchtet, dass der schlimmste Teil noch bevorsteht". Regierung und Parteien wird kaum zugetraut, Lösungen aus der Krise zu finden. In der Sonntagsfrage kann die Union überraschend zulegen - weil der Koalitionspartner so schwach ist.
Von Jörg Schönenborn, WDR
Es ist ein Bild der Sorge und Unsicherheit, das der neue ARD-DeutschlandTrend zeichnet. Die anhaltende Schuldenkrise lässt die Mehrheit der Deutschen skeptisch in die Zukunft blicken. 80 Prozent der Befragten fürchten, dass der "schlimmste Teil der Euro- und Schuldenkrise noch bevorsteht". Immerhin 57 Prozent machen sich Sorgen um ihre persönlichen Ersparnisse. Und auch auf die Frage, welche Partei die besten politischen Rezepte gegen die Krise habe, antwortet eine Mehrheit von 57 Prozent spontan "keine Partei".
Trotz dieser Stimmungslage kann die Union in der Sonntagsfrage deutlich zulegen. Sie macht innerhalb eines Monats einen Sprung um drei Punkte nach oben und steht jetzt wieder bei 35 Prozent. Weil aber der Koalitionspartner FDP mit vier Prozent unverändert schwach bleibt, würde das im Falle einer Bundestagswahl für eine Mehrheit im Parlament nicht reichen. Die SPD steht unverändert bei 28 Prozent, Verlierer des Monats sind die Grünen, die drei Punkte abgeben und auf 20 Prozent zurückfallen. Für eine rot-grüne Mehrheit reicht es aber weiterhin knapp. Die Linkspartei, die in den vergangenen Wochen wieder mal durch innerparteilichen Streit für Schlagzeilen gesorgt hat, gibt einen Punkt ab und steht nun bei sieben Prozent.
Heftige Kritik von Alt-Kanzler Kohl
Das beherrschende Thema dieses Sommers ist die Euro- und Schuldenkrise. Und es war immerhin der leibhaftige Alt-Kanzler Helmut Kohl, der seine Nachfolgerin und deren Minister heftig angriff. Deutschland, so Kohl in einem Zeitschriften-Interview, sei schon "seit einigen Jahren keine berechenbare Größe mehr". Die deutsche Außenpolitik habe den Kompass verloren und müsse wieder verlässlich werden. Mehr als zwei Drittel der Deutschen (68 Prozent) geben Kohl recht. Nur 26 Prozent folgen nicht seiner Kritik.
Zu diesen Ergebnissen passt auch die Bewertung der aktuellen Regierungspolitik. Zwei Drittel der Befragten, 66 Prozent, sind der Ansicht, die Bundesregierung habe "angesichts des Ausmaßes der Krise den Überblick verloren". Selbst unter den Unionsanhängern stimmt fast die Hälfte diesem Urteil zu. Ein positives Urteil wollen hingegen nur 29 Prozent abgeben: Die Regierung habe "in der Euro- und Schuldenkrise bisher die richtigen Entscheidungen getroffen". Zum Jahreswechsel hatte mit 47 Prozent immerhin noch knapp die Hälfte der Befragten ein positives Urteil.
Getriebene der Märkte
Allerdings scheint es für das wenig überzeugende Handeln der Bundesregierung auch eine plausible Erklärung zu geben. Letztlich, so glauben 74 Prozent, entschieden über die Zukunft des Euro nicht Politiker, sondern die Finanzmärkte. Regierungen und Parteien werden zunehmend als hilflos empfunden, als Getriebene der Märkte. Diese Beobachtung kann wenig überraschen, nachdem in den Sommermonaten Spekulationen gegen wechselnde Euro-Länder immer wieder für politische Turbulenzen gesorgt hatten.
Wenn es um Europa und den Euro geht, ist das Stimmungsbild in der Bevölkerung erstaunlich differenziert. Auf der einen Seite sind knapp zwei Drittel (65 Prozent) überzeugt, dass Deutschland "ohne eine starke EU seine gute wirtschaftliche Position nicht behaupten" könne. Und eine Mehrheit von 64 Prozent fordert sogar "mehr Europa", nämlich, dass die europäischen Länder in den nächsten Jahren enger zusammenrücken und noch mehr gemeinsame Politik machen. Nur 33 Prozent fordern "weniger Europa".
Mehrheit gegen Eurobonds
So breit die grundsätzliche Unterstützung für den Kurs der europäischen Einigung ausfällt, so deutlich ist doch die Ablehnung gegenüber den konkret geplanten Maßnahmen. Sollte der Bundestag, wie allgemein vermutet wird, Ende des Monats dem erweiterten Euro-Rettungsschirm zustimmen, so hätte er nur 30 Prozent der Befragten hinter sich. Die große Mehrheit, 66 Prozent, lehnt die Pläne ab, nach denen die starken Euro-Länder die schwächeren mit Kreditgarantien unterstützen sollen. Ähnlich fällt das Ergebnis aus, wenn es um die Eurobonds geht, gemeinsame Anleihen der Euro-Länder. Selbst einer begrenzten Ausgabe solcher Anleihen stimmen nur 35 Prozent zu, 55 Prozent lehnen sie ab.
Der Euro-Rettungsschirm, der am Mittwoch vom Bundeskabinett verabschiedet wurde, sorgt vor allem innerhalb der Regierungsparteien für offenen Streit. CDU/CSU und FDP fürchten bei der entscheidenden Abstimmung um ihre Mehrheit, weil einzelne Abgeordnete ihre Zustimmung verweigern. Vor allem diese Debatten dürften dazu beigetragen haben, dass FDP und CDU gegenwärtig von den Wählern als besonders zerstritten wahrgenommen werden. Über die FDP haben 76 Prozent, über die CDU 65 Prozent dieses Urteil.
Große Wählerwanderung
Dass es der Union trotzdem gelingt, in der Sonntagsfrage drei Punkte hinzuzugewinnen, hat viel mit der Schwäche des eigenen Koalitionspartners zu tun. Bei der Bundestagswahl vor zwei Jahren konnte die FDP ihren Erfolg vor allem deshalb feiern, weil sie mehr als 1,1 Millionen Unionswähler für sich gewonnen hatte. Eine Wählerwanderungsbilanz von der damaligen Bundestagswahl zur heutigen Sonntagsfrage zeigt, dass die Union diesen Verlust längst überkompensiert hat. 1,5 Millionen ehemalige FDP-Anhänger würden nun Union wählen. Rechnerisch könnten CDU/CSU damit heute deutlich mehr als die derzeitigen 35 Prozent holen, hätten sie nicht gleichzeitig etwa 3,1 Millionen ihrer eigenen Anhänger verunsichert, von denen sich etwa zwei Millionen für überhaupt keine Partei entscheiden können und gut eine Million zu SPD und Grünen abgewandert sind.
Wenig Zustimmung für Westerwelle, aber ...
Diese großen Wanderungsbewegungen zeigen, wie verunsichert die Wählerschaft ist und wie gelockert die klassischen Parteibindungen sind. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass derzeit keine Partei überragende Führungsfiguren hat, die weit in andere Lager hinein Popularität genießen. Kein einziger deutscher Spitzenpolitiker erreicht derzeit auch nur einen Zustimmungswert von 60 Prozent. Die Spitzenplätze halten Verteidigungsminister Thomas de Maizière und SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier mit jeweils 57 Prozent. Es folgen der SPD-Politiker Peer Steinbrück (56 Prozent) und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (52 Prozent). Umweltminister Röttgen bringt es genauso wie Kanzlerin Angela Merkel auf 47 Prozent Zustimmung. Am unteren Ende rangieren FDP-Parteichef Philipp Rösler mit 27 Prozent, Linken-Fraktionschef Gregor Gysi mit 22 Prozent und als Schlusslicht Außenminister Guido Westerwelle mit 20 Prozent, der gegenüber dem Vormonat erneut vier Punkte einbüßt.
... Zustimmung für seine Libyen-Politik
Westerwelle war in der vergangenen Woche in die Kritik geraten, weil er die Enthaltung Deutschlands im UN-Sicherheitsrat bei der Abstimmung über den NATO-Einsatz in Libyen verteidigt hatte. Bitter für Westerwelle: Selbst rückblickend nach dem militärischen Erfolg der NATO halten weiterhin 54 Prozent der Deutschen die Enthaltung Westerwelles im UN-Sicherheitsrat für richtig. Nur 42 Prozent sind anderer Ansicht. Zustimmung für ihn oder seine Partei bringt das aber ganz offensichtlich nicht.
Die Deutschen sind und bleiben zurückhaltend, was Auslandseinsätze ihrer Soldaten angeht. Sollte es beim Wiederaufbau in Libyen notwendig sein, eine internationale Friedenstruppe zu entsenden, stimmen nur 41 Prozent der Beteiligung von Bundeswehrsoldaten zu, 56 Prozent lehnen sie ab. Anders ist das Bild, wenn es um wirtschaftliche Hilfe beim Wiederaufbau geht. Sie wird von 70 Prozent der Befragten unterstützt, von 27 Prozent abgelehnt.
Es sind weitreichende und grundsätzliche Fragen, mit denen die deutsche Politik derzeit befasst ist, und es sind Fragen, bei denen es weniger um Krieg und Frieden, als vielmehr um unseren zukünftigen Wohlstand geht. Nur 32 Prozent der Befragten sehen vor diesem Hintergrund "eher mit Zuversicht" in die Zukunft. Die Mehrheit von 60 Prozent ist "eher beunruhigt". Und deren Sorge gilt nicht in erster Linie Terror und Krieg. Nur 21 Prozent derjenigen, die sich Sorgen machen, leben in der Sorge, dass es in Europa Krieg geben könne, 43 Prozent fürchten, dass es zu Terroranschlägen kommen könne. 80 Prozent der Bürger, die „eher beunruhigt“ sind, hingegen haben die Sorge, "dass es ihnen oder ihren Kindern in Zukunft wirtschaftlich schlechter gehen könnte als heute". Vertrauen gewinnen können Politiker und Parteien gegenwärtig wohl nur, wenn sie dieser Sorge mit ihrer Politik wirksam begegnen.
Stichprobe: Repräsentative Zufallsauswahl / Randomstichprobe
Erhebungsverfahren: Computergestützte Telefoninterviews (CATI)
Fallzahl: 1002 Befragte
Erhebungszeitraum: 29. und 30. August 2011
Fallzahl Sonntagsfrage: 1502 Befragte
Erhebungszeitraum: 29. bis 31. August 2011
Fehlertoleranz: 1,4* bis 3,1** Prozentpunkte
* bei einem Anteilswert von 5%, ** bei einem Anteilswert von 50%