DeutschlandTrend

ARD-DeutschlandTrend Erstmals klare Mehrheit für Wulff-Rücktritt

Stand: 02.02.2012 22:20 Uhr

Nur noch 16 Prozent der Deutschen halten Bundespräsident Wulff für ehrlich. Eine Mehrheit von 54 Prozent fordert seinen Rücktritt. Hingegen gibt es für die schwarz-gelbe Koalition die beste Bewertung seit Amtsantritt im Herbst 2009. Die Hälfte der Befragten zweifelt am deutschen Wirtschaftssystem.

Von Jörg Schönenborn, WDR

Während halb Europa neidisch auf unser Job-Wunder blickt, sehen die Deutschen selbst die Lage ziemlich nüchtern. Die große Mehrheit hat das Gefühl, dass dieser Aufschwung nicht ihr Aufschwung ist. Und immerhin 50 Prozent der Befragten im aktuellen ARD-DeutschlandTrend sind unzufrieden damit, wie die soziale Marktwirtschaft funktioniert.

Trotz dieser skeptischen Beurteilung findet Bundeskanzlerin Angela Merkel breite Anerkennung über die politischen Lagergrenzen hinweg. Mit 64 Prozent Zustimmung erreicht sie die beste Bewertung seit Ende 2009. Vor allem aber gilt sie als integre Persönlichkeit - anders als Bundespräsident Wulff, den nur noch 16 Prozent der Befragten für "ehrlich" halten. Zum ersten Mal im ARD-DeutschlandTrend fordert eine deutliche Mehrheit seinen Rücktritt.

Große Ruhe auf dem Parteienmarkt

Trotz Eurokrise und Wulff-Affäre herrscht auf dem Parteienmarkt allerdings große Ruhe. Leichte Aufwärtsbewegungen der Koalitionsparteien hatten sich schon Mitte Januar abgezeichnet. Die Union legt gegenüber Anfang Januar einen Punkt auf 36 Prozent zu. Auch die FDP klettert wieder auf drei Prozent (+1). Die SPD verliert leicht auf 29 Prozent (-1), die Grünen verlieren leicht auf 15 Prozent (-1).

Die Linkspartei legt einen Punkt zu auf sieben Prozent, die Piraten bleiben mit sechs Prozent stabil. Ein rot-grünes Bündnis wäre mit zusammen 44 Prozent weiterhin ohne Mehrheit - genauso wie die amtierende Regierungskoalition. Selbst wenn die FDP deutlich ansteigen und die Fünf-Prozent-Hürde schaffen sollte, reicht es bei den derzeitigen Kräfteverhältnissen nicht für Schwarz-Gelb.

Das ist erstaunlich, denn immerhin erreicht die Bundesregierung mit 42 Prozent Zustimmung zur gegenwärtigen Arbeit ihre beste Bewertung seit Amtsantritt im Herbst 2009. Und auch Kanzlerin Merkel hat sich kontinuierlich aus dem persönlichen Stimmungstief herausgearbeitet. Der erste Platz in der Tabelle der beliebtesten Spitzenpolitiker gehört zwar im Februar Wolfgang Schäuble mit 65 Prozent. Merkel rangiert aber mit 64 Prozent nur knapp dahinter, gefolgt von Verteidigungsminister Thomas de Maizière mit 60 Prozent.

Ungewöhnliches im Mittelfeld

Die beiden SPD-Spitzenpolitiker Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier gehören mit jeweils 55 Prozent nun nicht mehr zur Spitzengruppe. Ungewöhnliches tut sich im Mittelfeld: Außenminister Guido Westerwelle legt satte neun Punkte zu und erreicht mit 34 Prozent den besten Wert seit zwei Jahren. Damit rangiert er nicht nur vor Bundespräsident Wulff (33 Prozent), sondern nun auch wieder vor seinen innerparteilichen Kontrahenten Rainer Brüderle (29 Prozent) und Philipp Rösler (18 Prozent).

Die unangefochtene Stellung von Merkel hat vor allem damit zu tun, dass sich ihr Image bei den Anhängern der Regierungs- und Oppositionsparteien nur graduell unterscheidet. 85 Prozent halten sie für eine "Politikerin, die unser Land in der Welt gut vertritt". Und auch die Kritik an ihrem Krisenmanagement ist abgeebbt. Dass sie in der "Eurokrise richtig und entschlossen gehandelt" hat, attestieren nun 61 Prozent. Sogar 69 Prozent halten sie schlicht für "eine gute Bundeskanzlerin". Bei den Anhängern der Grünen sind es sogar 73 Prozent, bei den SPD-Anhängern immerhin 55 Prozent, die das so sehen.

Merkel steht für viele über dem Parteienstreit

Für viele Deutsche wirkt Merkel längst nicht mehr wie eine klassische Parteipolitikerin, sondern eher wie jemand, der über dem Alltagsstreit der Parteien steht - für eine Bundeskanzlerin eine ungewöhnliche Rolle. Die hat aber sicher auch mit dem deutlichen Kontrast zu tun, den die Befragten zwischen ihr und Bundespräsident Wulff wahrnehmen. Denn 73 Prozent halten Merkel für "rechtschaffen und nicht auf den eigenen Vorteil bedacht".

Dieser breite Respekt für Merkel ändert aber nichts an deutlicher Kritik in wichtigen Sachfragen. Seit Jahren hat sie das Image, sich eher "um die Interessen der Wirtschaft als um die der kleinen Leute" zu kümmern. Das sehen aktuell 69 Prozent der Befragten so - und auch eine Mehrheit der Unionsanhänger.

Das passt gut zum Blick, den die Deutschen derzeit auf die Wirtschaftslage im eigenen Land haben. Sie registrieren mit großer Mehrheit, dass der Aufschwung da ist und die Arbeitslosenzahlen zurückgehen. Aber der Aufschwung scheint vor allem den Besserverdienenden zu gehören. Nur 25 Prozent der Befragten geben an, dass sie nach eigener Einschätzung persönlich vom Wirtschaftswachstum profitieren. Bei Geringverdienern (unter 1500 € Nettoeinkommen) sind es sogar nur 10 Prozent, während bei den Besserverdienenden (über 3000 €) immerhin 36 Prozent auch persönliche Vorteile vom Aufschwung registrieren.

Soziale Marktwirtschaft wird von vielen kritisch gesehen

Diese Wahrnehmung erklärt, warum die viel gepriesene soziale Marktwirtschaft von vielen so kritisch gesehen wird. Nur 49 Prozent erklären, sie seien mit dem Funktionieren unserer Wirtschaftsordnung zufrieden, 50 Prozent zeigen sich unzufrieden. Dabei erkennen zwar rund zwei Drittel an, dass die soziale Marktwirtschaft für die Bundesrepublik immer noch die beste Lösung und dass sie für den gegenwärtigen Aufschwung verantwortlich sei. Aber 73 Prozent haben den Eindruck, sie "funktioniert nicht mehr so wie früher". Und noch zugespitzter: Sie "macht die Reichen reicher und die Armen ärmer", denken 77 Prozent.

So entsteht aus den einzelnen Puzzleteilen ein Bild: Die Bundesrepublik hat mit Merkel eine integre und respektierte Kanzlerin, aber eben auch eine, die soziale Fragen und die Interessen der kleinen Leute aus Sicht der Bürger vernachlässigt. Sie stemmt sich aus Sicht der Befragten nicht gegen eine Wirtschaftsordnung, die den hinzugewonnenen Wohlstand immer ungleicher verteilt.

Die nächste Bundestagswahl findet voraussichtlich erst in anderthalb Jahren statt, aber in dieser diffusen Stimmungslage zeichnet sich keine klare Machtkonstellation ab. Die Deutschen sind gespalten, ob die nächste Bundesregierung wieder unionsgeführt (37 Prozent) oder lieber SPD-geführt (39 Prozent) sein sollte. Aber keiner der drei möglichen SPD-Kanzlerkandidaten hat im direkten Vergleich mit der Kanzlerin die Nase vorn. Am nächsten kommt noch Steinbrück, für den sich im Falle einer hypothetischen Direktwahl 41 Prozent entscheiden würden, für Merkel 47.

Erstmals klare Mehrheit für Wulff-Rücktritt

Bleibt das meist diskutierte Thema der letzten Wochen: Die Bewertung von Bundespräsident Wulff nimmt langsam dramatische Züge an. Nur noch 16 Prozent halten ihn für ehrlich, 76 Prozent für unehrlich. Nur noch 22 Prozent halten ihn für glaubwürdig, 73 Prozent für unglaubwürdig. Und nur noch eine Minderheit von 43 Prozent glaubt, er habe Respekt vor den geltenden Gesetzen. Einzig seine Sympathiewerte sind stabil bei 65 Prozent.

Bis zum Jahreswechsel sprach sich stets eine deutliche Mehrheit dafür aus, dass Wulff sein Amt weiter ausführen könne. Dann schwankten die Zahlen mit den neuen Meldungen und pendelten sich bei einem Gleichstand ein. Nun spricht sich mit 54 Prozent erstmals eine klare Mehrheit für den Wulff-Rücktritt aus, nur 43 Prozent möchten ihn weiter im Amt sehen.

Und die Wulff-Affäre färbt ab auf das Image der Politiker insgesamt. Die Mehrheit der Befragten, 53 Prozent, glaubt, dass sich die "meisten Politiker wirtschaftliche Vorteile im Amt sichern". 41 Prozent glauben, dass sich nur eine Minderheit so verhält, nur drei Prozent halten Wulff für einen Einzelfall.

Untersuchungsanlage DeutschlandTrend
Grundgesamtheit: Wahlberechtigte Bevölkerung in Deutschland ab 18 Jahren
Stichprobe: Repräsentative Zufallsauswahl / Randomstichprobe
Erhebungsverfahren: Computergestützte Telefoninterviews (CATI)
Fallzahl: 1001 Befragte
Erhebungszeitraum: 30. bis 31. Januar 2012
Fallzahl Sonntagsfrage: 1501 Befragte
Erhebungszeitraum: 30. Januar bis 01. Februar 2012
Fehlertoleranz: 1,4* bis 3,1** Prozentpunkte
* bei einem Anteilswert von 5%, ** bei einem Anteilswert von 50%